Institutionelle Bildung im Deutschland des 20.Jahrhunderts

Josef Schmidt SJ besuchte von 1957-1966 das humanistische Gymnasium in Erlangen. Nach der allgemeinen Hochschulreife trat er im Jahr 1966 in den Jesuitenorden ein. Er studierte von 1968-1971 Philosophie an der Hochschule in Pullach, der Vorgänger-Institution der Hochschule für Philosophie München. Von 1971-1976 betrieb Schmidt Studien an der LMU München, die er 1976 mit einer Promotion im Fach Philosophie abschloss. Von 1976-1980 folgte ein Theologie-Studium an der päpstlichen Universität Gregoriana in Rom. Seit 1980 ist Schmidt an der Hochschule für Philosophie tätig. Seine Arbeitsschwerpunkt liegen auf der philosophischen Gotteslehre und dem deutschen Idealismus.

Kopf: Herr Professor Schmidt, was würden Sie spontan mit dem Begriff ‚Bildung‘ assoziieren?

Schmidt: Es ist interessant, dass dieser Bildungsbegriff aus der Mystik, aus der Theologie stammt: Der Mensch ist zum Bild des Unendlichen geschaffen. Damit hat dieses Bild etwas Normatives. Der Mensch muss sich bilden nach einem Bild, das er wesentlich selber ist, aber das zugleich etwas in sich abbildet. Was sich da abbilden soll, ist das Göttliche, das Unendliche, die absolute Transzendenz. In seiner Freiheit erfährt der Mensch seine eigene Grundfähigkeit, das Göttliche als das Normative in sich zu erfassen, auszubilden und zu formen. Das ist der Ursprung dieses Begriffes ‚Bildung‘. Und ich denke, daran kann man sich auch heute orientieren: Bildung ist ein Prozess, sich zu formen, sich in eine Form zu bringen, die dem Menschen wirklich gemäß ist. In diesem Bildungsprozess eignet sich der Mensch die Welt an. Bildung ist somit ein Reifungsprozess, wie die Aufnahme von Nahrung. Das entspricht dem klassischen, goetheschen, weimarischen Bildungsbegriff. Bildung ist demnach ein Prozess, sich die so Welt anzueignen, dass man sich in dieser Aneignung in die Gesamtheit der Welt einzufügen lernt.

Kopf: Würden Sie sagen, dass die so verstandene Bildung ein Luxusgut ist, das wir uns angesichts wirtschaftlicher Herausforderungen „noch dazu“ leisten müssen, oder hat Bildung in diesem Sinne eine grundlegendere Funktion, die auch sozialen und wirtschaftlichen Prozessen zugrundeliegt?

Schmidt: Dieser Bildungsbegriff ist nichts Elitäres, sondern diese prozesshafte Aneignung der Welt gilt für jeden Menschen. Man stößt damit auf die Grunddefinition des Menschen: „Der Mensch ist geschaffen nach dem Bild Gottes“, d.h. er bildet in sich das ab und lässt sich von dem bilden, worauf er grundsätzlich ausgerichtet ist. Wenn der Mensch auf eine Unendlichkeit ausgerichtet ist, dann bildet sich diese Unendlichkeit in ihm ab. Diese grundsätzliche Transzendenzfähigkeit bedeutet nicht, dass man alles erfassen muss, sodass man dann im faustischen Sinne eine Gier entwickelt. Die Transzendenz des Menschen bedeutet, dass er eine Ordnung erfasst, in die er sich selbst einfügt. Eine Ordnung, in die er nicht von außen eingefügt wird, sondern sich selbst einfügt. Für die menschliche Existenz ist es wesentlich, dass sie einen Raum findet, in den sie eingefügt ist; das gilt für jeden Menschen. Es gibt verschiedene Ausprägungen und wenn eine/r die Möglichkeit hat, sich auch theoretisch weiterzubilden, dann stellt sich diese Aufgabe in einer gewissen Verantwortlichkeit, sodass man sich überlegt: Was besagt dieser Bildungsbegriff?

Was für die Philosophie ganz wichtig ist: Diese Bildung ist ein Reifungsprozess, der nicht einfach so beschleunigt werden kann. Diese Entwicklung braucht Zeit. Es ist essentiell, dabei Geduld mit sich selber zu haben und sich auch den erforderlichen Freiraum zu nehmen. Wir müssen wirklich Acht geben, dass unsere Philosophie nicht gesehen wird als eine Ausbildung für einen ganz bestimmten Nutzen, sondern ein Raum bleibt, wo man Sinn hat für das, was ein Zweck an sich selbst ist. Bei Kant ist diese Selbstzwecklichkeit die Mitte seiner Ethik: Der Mensch ist Zweck an sich selbst und nicht nur Mittel zu etwas. Zu der Selbstzwecklichkeit gehört auch, dass der Mensch sich als Zweck an sich entfaltet. Die Reflexion darauf macht meiner Ansicht nach die Philosophie und das Studium der Philosophie aus – einer Philosophie, die nicht nach Nützlichkeitsaspekten betrachtet werden darf, weil dem Nützlichkeitsprinzip etwas zugrunde liegen muss, ohne was das Nützlichkeitsprinzip allein leerläuft, nämlich: Was einfach Sinn in sich selbst ist. Alles das gehört zum Bildungsbegriff dazu.

Kopf: Lassen Sie uns nun zu den konkreten Bildungsinstitutionen kommen: Sie sind in den späten 50er und den 60er Jahren aufs Gymnasium gegangen. Wie haben Sie Ihre Zeit dort erlebt und was ist Ihnen am stärksten in Erinnerung geblieben?

Schmidt: Also unser Gymnasium war noch ein richtig altes Gymnasium (schmunzelt). Ich weiß nicht, ob Sie sich ein altes Gymnasium vorstellen können. Kennen Sie von Thomas Mann die Buddenbrooks? Da haben Sie doch auch gelesen, wie der Hanno seine Schule erlebt. Wir haben die Buddenbrooks im Deutschunterricht gelesen. Wir alle mussten lachen, wirklich lachen, weil wir uns in dieser Schilderung vollkommen wiedergefunden haben. Es war ein sehr autoritär geführtes Gymnasium. Im Mittelpunkt standen die alten Sprachen. Aber die alten Sprachen – und das war ein Mangel – wurden uns beigebracht wie ein Drill. Die Texte waren ein Steinbruch für Grammatik, aber die Inhalte wurden uns nicht wirklich vermittelt. Z.B. haben wir Platon gelesen, aber ich habe im Unterricht von Platon nichts mitbekommen. Es gab aber Ausnahmen: Was mich sehr angesprochen hat, das war Homer. In den habe ich mich geradezu verliebt! Ich liebe die Odyssee, immer noch! Diese wunderbare Geschichte von Odysseus! Und dann Sophokles, also die Dramen, v.a. die Antigone. Das hat mich wirklich begeistert. Und ich halte die Antigone des Sophokles immer noch für eines der bedeutendsten Theaterstücke, wo etwas ganz Grundsätzliches verhandelt wird.

Womit wir Gymnasiasten uns geistig noch auseinandergesetzt haben – und das charakterisiert auch die damalige Zeit – das waren v.a. Einflüsse des französischen Existentialismus. Wir haben Camus gelesen, die Pest, den Mythos des Sisyphos. Wir haben Theaterstücke angeschaut: Die Fliegen von Sartre, Das Spiel ist aus, usw. Und in diesen Theaterstücken wurden Fragen aufgewühlt, die aber unbeantwortet blieben von unseren Autoritäten, auch vom Religionsunterricht. Das waren grundsätzliche Fragen nach Freiheit, nach dem Glauben, nach dem Religiösen. Als wir damals die Antigone lasen, hatte ich die Aufgabe, das Drama des Sophokles mit einer existentialistischen Interpretation dieses Stückes zu vergleichen. Dabei kamen sehr interessante Diskussionen im Unterricht auf, wo mir auch klar wurde, was diese Existentialisten berührt haben: Die Wertesysteme sind nicht nur einfach da, sondern sie können in Frage gestellt werden! Aber sie einfach zu destruieren, ist eine Sackgasse.

Diese Fragen haben uns damals verbunden, auch wenn sie von unseren Autoritäten unbeantwortet blieben. Und mich persönlich hat das zur Theologie gebracht, weil ich dachte: Da muss doch irgendwie die Antwort liegen! […] Doch zuerst kam die Philosophie in Pullach. Da herrschten noch Thomismus und Scholastik und ich habe das gelernt wie einen Schulstoff, wie ich die Flüsse Afrikas gelernt habe! (Lacht) Erst durch Leute wie Albert Keller, Jörg Splett und Ferdinand Ulrich ist mir aufgegangen, was überhaupt Philosophie ist: Dass es da genau um das geht, was ich eigentlich gesucht hatte! Eine Antwort auf die Fragen, die mir von meiner Gymnasialzeit geblieben sind und die wieder aufgebrochen sind und diskutiert werden durften – in ihrer ganzen Tiefe. Meine Leidenschaft für die Philosophie habe ich auch entdeckt, weil ich festgestellt habe, dass die theologischen Inhalte der Vermittlung auf der Ebene der Vernunft bedürfen. Als ich dann an der LMU die Promotion in Philosophie anstrebte, wurde ein Mann für mich sehr wichtig: Herman Krings. Er war ein Philosoph, der die Tradition sehr gut kannte, aber dann v.a. an Kant orientiert war und einen wirklich großartigen Freiheitsbegriff entwickelt hat. Krings wurde dann mein Doktorvater.

Kopf: Ihr Studium fiel ja genau in die Zeit der 68er Revolution. Wie haben Sie diesen Umbruch mit seinen Auswirkungen auf Studium und Hochschulen erlebt?

Schmidt: Ab 1971 war ich Assistent der Fakultät an der Hochschule und studierte an der LMU. Da war die Atmosphäre der 68er sehr stark spürbar. Ich habe es einerseits als positiv erlebt, weil z.B. die Autoritätshörigkeit, die wir auch am Gymnasium noch erlebt haben, aufgebrochen wurde. Manchmal ein wenig brutal, aber die Demokratisierung usw. hat wohlgetan. Auch in den Seminaren herrschte dann ein anderer Ton. Nur, es gab in jener Zeit so eine weitverbreitete Ideologie bei den Studenten, die radikal dogmatisch-links, marxistisch war. Ich war ja auch gegen den Vietnam-Krieg, aber dann den Mao mit seiner Kulturrevolution, oder den Hồ Chí Minh, diesen Diktator, so zu verehren, und natürlich Che Guevara, und Castro! Da wurden richtige Lehrbücher aus der DDR geholt und gelesen. Das waren wirklich kommunistische Katechismen! In dieser geistigen Welt bewegten die sich, aber ich empfand das als einen wirklichen Rückfall. Da dachte ich: „Wir, damals, auf dem Gymnasium, in unserer Auseinandersetzung mit dem französischen Exisentialismus, wir hatten mehr philosophisches Niveau als die mit ihrem dogmatischen Marxismus.“ Unsere Hochschule war natürlich eine Alternative. Und wir haben viele Studenten bekommen, denen diese Atmosphäre an der Universität eben gerade nicht gefallen hat.

Kopf: Sie haben sich in Ihrem Philosophiestudium in Pullach v.a. auch mit Scholastik beschäftigt. In welcher Weise haben Sie sich damit beschäftigt? Und hat Ihnen da vielleicht etwas anderes gefehlt? Haben Sie zu der Zeit schon Hegel kennengelernt, oder kam das erst später?

Schmidt: Die ersten Jahre waren stark von einer traditionellen Erkenntnistheorie und Ontologie bestimmt, z.B. bei Pater Schulte. Das war eine Darstellung des thomistischen Systems. Schulte sagte: In der Philosophie gibt es keine Autorität – sagt Thomas! (Lacht schallend) Das kam jedes mal: „Sagt Thomas!“ Alles wurde auf Thomas zurückgeführt.

Kopf: Aber Sie haben dieses thomistische System dann über mehrere Semester hinweg durchdrungen?

Schmidt: Jaja, und ich bin da auch nicht traurig, denn es ist schon sinnvoll, einmal diese ganze scholastische Tradition kennenzulernen. Manches, was jetzt in der analytischen Philosophie so im Detail diskutiert wird, hat die Scholastik auch schon gehabt. Aber meine Grundfragen aus meiner Gymnasialzeit fanden da keine Antwort. Das habe ich nicht gesehen. Aber auf einmal kamen einige, die anders angesetzt haben, bspw. Jörg Splett. So wie er etwa Buber und Heidegger, aber auch Hölderlin und Rilke interpretierte, da konnte man merken: es geht um etwas.

Diese neuen Ansätze habe ich erlebt als eine Befreiung und eine wirkliche Perspektive. Von da konnte ich die Tradition wieder ganz neu würdigen. Auf dem Standpunkt stehe ich eigentlich auch heute: Wenn man einmal etwas in die Tiefe geschürft hat und zu einer solchen Bildung, wie ich sie vorhin geschildert habe, gekommen ist, dann kann man wirklich aus allen Klassikern etwas gewinnen. Dann kann man von allen lernen und sich inspirieren lassen, aber man kommt nicht mehr so ins Schleudern. Wissen Sie, ich drücke das immer so aus: Die Philosophie ist ein Training, durch das man eine gewisse Trittfestigkeit im Diskurs bekommt. Dabei ist es interessant, dass ein systematischer Philosoph wie Hegel ganz offen ist für die Philosophiegeschichte! Ich halte es für sehr wichtig, die Philosophiegeschichte als einen großen philosophischen Diskurs sehen zu lernen, sodass man sich in diesem Diskurs bewegen kann; wie man sich auch mit heutigen Fragen in einem Diskurs bewegt.

Kopf: Was sollten Studierende bei ihrem Studium und auf ihrem Weg beachten?

Schmidt: Selber Fragen haben! Ehrlich selber Fragen haben! Aber diesen nicht in sich versponnen nachgehen, sondern mit diesen Fragen an die großen Klassiker gehen. Das bedarf einiger Anstrengung. Weitgehend ist die Philosophie ein Lesen-Lernen, eine hermeneutische Aufgabe. Aber da muss man durch. Was man entdeckt ist das, was man eigentlich sucht und dann auch brauchen kann. Dafür braucht man Zeit und das zu beachten ist für die Studienplanung wichtig. Darüber hinaus schult das Lesen-Lernen auch eine Disziplinierung in dem Bemühen, etwas zu verstehen. Aber wer die Grundgedanken eines Textes einmal erfasst hat, der ist erfreut darüber in diesem Prozess auf die springenden Punkte gekommen zu sein. Und diese Gedanken kann man dann – die hat man dann. Das meinte ich mit dieser Trittfestigkeit: Eine Fähigkeit, mit diesen Grundgedanken und Argumentationen vertraut zu sein, sodass man sich darin bewegen kann. Und das hilft! Ich merke das, wenn ich mit meinen Nichten und Neffen korrespondiere. Ich muss denen ja nicht Kant erklären. Aber auf einer ganz einfachen oder eigenen Sprache geht das Beste, was ich bei Kant gelernt habe, in solche Gespräche ein.

Kopf: Verstehe ich Sie richtig: Sie sind der Meinung, dass diese Gedanken, die man sich auf theoretischer Ebene einmal gemacht hat, dann hinabsinken können in alltägliche Gespräche oder Beschäftigungen?

Schmidt: Eben! Sie werden merken: Ihre Beschäftigung mit Philosophie befähigt sie z.B. in Theaterstücken, in Filmen, in der Literatur Dinge zu erkennen, zu identifizieren, mitzuteilen, darüber zu sprechen. Man verbietet sich dann vorschnelle Urteile; das erlaubt man sich einfach nicht mehr. Aber wenn man etwas erfasst hat, kann man es so vermitteln, dass es ein anderer nachvollziehen kann. Es muss ja nicht gleich zu einem gemeinsamen Einverständnis kommen. Aber allein ein Nachvollziehen fremder Gedanken ist ja schon enorm viel.

Kopf: Herr Professor Schmidt, haben Sie vielen herzlichen Dank für das Gespräch!

 

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