Die Wieder-Wieder-holung-holung

Plädoyer für eine #KopernikanischeUniversitätswende

„hortemur [omnes], ut animo rei magnitudinem complectantur neque eis aut praeceptis aut magistris aut exercitationibus, quibus utuntur omnes, sed aliis quibusdam se id, quod expetunt, consequi posse confidant.“
(Cicero, De oratore I,19.)

„Lasst uns [alle] ermutigen, dass sie die Bedeutung dieser Angelegenheit in ihrem Herzen erfassen und darauf vertrauen, dass sie das, wonach sie sich sehnen, erreichen können – jedoch nicht durch das Einhalten von Vorschriften oder das Aufsuchen von Lehrern oder das Absolvieren von Übungen, die alle praktizieren, sondern irgendwie anders.“

I.

Aus dem In-der-Universität-Sein erwache ich plötzlich zu mir selbst: Ich schaue mich um. Da sind Regale voller Bücher und Tische, an denen sich Gestalten über ihre Aufzeichnungen beugen. Ich befinde mich allem Anschein nach in einer Bibliothek. Was wollte ich hier noch gleich tun? Ach ja, richtig: Ich hatte ein Studium begonnen, da ich etwas verstehen wollte. Nun sehe ich mich konfrontiert mit fremden Ansprüchen und Prüfungen, mit Deadlines und ECTS. Ich blicke auf das Vorlesungsskript, das vor mir auf dem Tisch liegt. Weiterlesen? Da ist dieses Gefühl in mir, das mich aufhält, das mich zurückzieht. Dieser Wunsch, hinter die Kulissen zu schauen und bedeutende Gedanken zu verstehen. Ich blicke aus dem Fenster und lasse meine Gedanken schweifen…

Was bedeutet es, etwas zu „verstehen“? Die folgenden Überlegungen stellen eine Alternative zum „Studieren nach Vorschrift“ dar, eine Chance für ein eigentliches Studieren. Wer tatsächlich „verstehen“ möchte, kann sich selbst nicht überspringen – er*sie kann sich nicht auf Studienverlaufspläne und ECTS verlassen. Alsó beginnt die Suche an anderen Orten.

II.

Der Philosoph Søren Kierkegaard unterscheidet zwischen subjektivem und objektivem Denken. In der Hoffnung, in dieser Unterscheidung einen ersten sicheren Schritt auf dem je-eigenen Weg des eigentlichen Studierens zu machen, soll der Philosoph hier selbst zu Wort kommen:

„Während das denkende Subjekt und seine Existenz dem objektiven Denken gleichgültig ist, ist der subjektive Denker als Existierender wesentlich an seinem eigenen Dasein interessiert, ist in ihm existierend. Darum hat sein Denken eine andere Art von Reflexion, nämlich die der Innerlichkeit, die des Besitzes, wodurch es dem Subjekt angehört und keinem anderen. Während das objektive Denken alles im Resultat ausdrückt und der ganzen Menschheit durch Abschreiben und Ableiern des Resultats und des Fazits zum Mogeln verhilft, setzt das subjektive Denken alles ins Werden und lässt das Resultat weg, teils weil dies gerade dem Denker gehört, da er den Weg hat, teils weil er als Existierender beständig im Werden ist, was ja jeder Mensch ist, der sich nicht dazu hat narren lassen, objektiv zu werden, unmenschlich zur Spekulation zu werden.“[i]

In unseren Tagen bestimmen Abprüfungen den Takt und den Rhythmus des Studierens an den Universitäten. Diese Abprüfungen referieren auf das objektive Denken derer, die diese Prüfungen durchlaufen. Den Studierenden ist vermittels der Studienverlaufspläne die Autonomie über die anfängliche Wahl der Inhalte ihres Studiums entzogen. Vermittels der Abprüfungen ist der Beschäftigung mit diesem oder jenem Inhalt von hoheitlicher Seite ein vermeintliches Ende gesetzt. Wir sehen: Zu Beginn und zu Ende setzt das neue Universitätssystem mit Verlaufs- und Lehrplänen sowie mit Abprüfungen das Skalpel an: Ausbildung als abgemessene und zählbare Ware, d.h. es soll etwas Äußerliches hergestellt, Resultate dargelegt werden – und das bitte säuberlich eingetütet und verpackt in eine 15-Minuten-Prüfungen. Wir wünschen Ihnen noch einen schönen Tag und vielen Dank, dass sie sich für Universace entschieden haben!

Das ECT-System hat nicht nur eine messende, sondern auch eine normierende Funktion. Diese normierende Funktion des ECTS, die auf den ersten Blick wie ein ungewolltes Nebenprodukt einer vermeintlich objektiven Messmethode erscheint, ist im studienalltäglichen Bewusstsein der Studierenden um ein Vielfaches mehr präsent als die messende Funktion. ECTS-Punkte normieren und setzen Grenzen. Das ECT-System ist der Aufstand des Ressentiments in der Universität. Es ist an der Zeit, sich Freiheit zu schaffen zu neuem Schaffen!

III.

„Bisher nahm man an, all unser Verstehen müsse sich nach den Studienverlaufsplänen richten; aber alle Versuche, durch sie a priori seinen Geist zu formen, wodurch unser Verstehen vertieft würde, gingen unter dieser Voraussetzung zunichte. Man versuche es daher einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Universität damit besser fortkommen, daß wir annehmen, die Studienverläufe müssen sich nach unserem Verstehen richten, welches so schon besser mit der verlangten Möglichkeit einer Bildung des Geistes a priori zusammenstimmt, die durch Prüfungen, ehe sie uns gegeben werden, erreicht werden soll. Es ist hiermit eben so, als mit den ersten Gedanken des Kopernikus bewandt, der, nachdem es mit der Bildung der Studierenden nicht gut fortwollte, wenn er annahm, das ganze Studierendenheer drehe sich um die Verlaufspläne, versuchte, ob es nicht besser gelingen möchte, wenn er die Studienverläufe sich drehen, und dagegen die Studierenden in Ruhe ließ. In der Universität kann man nun, was die Bildung der Studierenden betrifft, es auf ähnliche Weise versuchen.“[ii]

Es ergeht hiermit der Aufruf zu einer kopernikanischen Wende an den Universitäten! Nachhaltige und freiheitliche Bildung wird an Universitäten für Studierende erst dann wieder zugänglicher sein, wenn das Verstehen sich nicht mehr nach den Studienverlaufsplänen richten muss, sondern die Studienverläufe sich nach dem Verstehen der Studierenden richten. Nicht die Vergleichbarkeit und Gleichförmigkeit ist der Sinn des Studierens. Das Verstehen sei der Sinn des Studierens!

Das Studieren an Universitäten ist durch eine Marktlogik erfasst worden und das Man versucht, auch hermeneutische Verstehensprozesse auf ein Resultat zu bringen. Für ein geisteswissenschaftliches Verstehen stellt das eine Reduktion mit absurden Folgen dar: Nicht mehr der Verstehensprozess an sich ist der Inhalt und der Sinn des Studierens, sondern das Resultat wird zum Inhalt des Studierens – unabhängig davon, ob das Ich einen Verstehensweg gegangen ist oder nicht. Das Resultat kann schnell auswendig gelernt werden – und wird meist noch schneller wieder vergessen. Auswendig-gelernte Resultate haben eine geringe Halbwertszeit: Sie zerfallen uns kurz nach der Abprüfung unter den Händen, da ihnen die Erdung in unserer Existenz fehlt. Das Abprüfen von Resultaten fragt nach objektivem Denken; das Verstehen als das subjektive Denken gerät zunehmend in Vergessenheit. Die Worte Kierkegaards erklingen wie eine Prophetie heutigen Studierens: „[D]as objektive Denken [drückt] alles im Resultat [aus und verhilft] der ganzen Menschheit durch Abschreiben und Ableiern des Resultats und des Fazits zum Mogeln“.

Lieber Leser, Liebe Leserin, Liebe*r LesX: Lass dich nicht dazu narren, objektiv zu werden! Im ersten Moment mag man auf die Studienverlaufspläne vertrauen – doch sie werden dich niemals zum Verstehen, zum subjektiven Denken führen! Wenn du etwas verstehen willst, dann biege ab von der mit ECTS und Vorlesungsskripten gepflasterten Mainstream-Autobahn. Um zu verstehen, begib dich auf den schmalen und einsamen Pfad durchs Gebirge. Dieser Pfad ist nicht einfach zu finden; obgleich es der älteste von Menschen jemals begangene Pfad ist. Meine Gedanken mögen dir eine Spur zu diesem Pfad sein.

IV.

Bevor wir in tiefes Misstrauen gegenüber der heutigen Universität stürzen und die Lust am Studieren verlieren, schauen wir noch einmal zu Kierkegaard: Der „subjektive Denker [ist] wesentlich an seinem eigenen Dasein interessiert [und das subjektive] Denken hat [die Art] der Innerlichkeit…“. Das subjektive Denken, das Kierkegaard hier als Alternative des objektiven Denkens in Betracht zieht, hängt mit der eigenen Existenz zusammen. Die eigenen Erfahrungen und die je-eigene Biographie sind von zentraler Bedeutung für das Verstehen und das subjektive Denken. Verstehen ist ein innerlicher Prozess – diesen mit äußerlichen Verlaufsplänen oder Prüfungen zu verwechseln, ist ein naheliegender, aber umso schwererer Irrtum. Man kann sich selbst im hermeneutischen Verstehensprozess nicht überspringen. Wie aber sieht ein solches Verstehen konkret aus?

Lasst uns dazu auf die Worte Gadamers hören, der uns einen Hinweis hinterlassen hat: „Im Fremden das Eigene zu erkennen, in ihm heimisch zu werden, ist die Grundbewegung des Geistes, dessen Sein nur Rückkehr zu sich selbst aus dem Anderssein ist.“[iii]

Der Verstehensprozess, nach dem wir auf der Suche sind, ist eben jene „Grundbewegung des Geistes“, von der Gadamer hier spricht. Wir entdecken in diesem Satz Gadamers eine Bipolarität des subjektiven Denkens: Das „Ich“ und das „Unbekannte“ sind die Pole jeden Verstehens, in Gadamers Worten: Das „Eigene“ und das „Fremde“. Zwischen diesen beiden Polen spielt sich eine Dynamik ab – es ist die Dynamik des Verstehens. Der verstehende Geist ist nicht statuarisches Festhalten von Resultaten, sondern eine dynamische Bewegung. Diese wendet sich zuweilen dem Fremden zu („Im Fremden das Eigene zu erkennen“). Dann geht die Bewegung wieder auf das Eigene zurück („Rückkehr zu sich selbst“). In beiden Richtungen bleibt auch der jeweils andere Pol erhalten und wird nicht zurückgelassen. Man kann sich selbst im Verstehen eben nicht überspringen.

Subjektives Denken ist eine Beziehung. Verstehen spielt sich immer zwischen diesen beiden Seiten ab – zwischen dem Ich und dem Unbekannten, zwischen der eigenen Existenz und der zu erkundenden Welt, zwischen Geist und Literatur. Wer einen Teil aus dieser Beziehung isoliert (z.B. ein Resultat x), der wird dem Verstehensprozess als solchem nicht gerecht. Mehr noch: Wer ein Resultat als verbindliche Prüfungsnorm aus dem Verstehensprozess herauslöst (und mit einer Punkteskala zu bemessen sucht), der greift modifizierend in diesen Verstehensprozess ein. Der konstante Konflikt zwischen existentiellem Verstehensprozess und normiertem Prüfungsinhalt in den Köpfen der Studierenden und Dozierenden ist die Explosion, die derzeit hörbar durch die Flure unserer Universitäten dröhnt.

Die je-eigenen Voraussetzungen des Studierenden fließen in seinen Verstehensprozess und in sein Studium unweigerlich mit ein – und das ist im geisteswissenschaftlichen Verstehensprozess nichts Negatives, sondern vielmehr positiv zu bewerten. „Studieren ist nur so möglich, dass der Studierende seine eigenen Voraussetzungen ins Spiel bringt.“[iv] Lass dich nicht dazu narren, objektiv zu werden! Tritt als Existierende*r und subjektive*r Denker*in ein in das Werden! Wie aber kann das Ich unter den heutigen strukturellen Bedingungen auf den geheimnisumwitterten, einsamen und schmalen Gebirgspfad des Verstehens finden?

V.

Um die hier abgespielte theoretisch-philosophische Leier über den Verstehens-Begriff nicht einfach auf dem kosmisch-galaktischen Müllhaufen schöner aber nicht-praktikabler Ideen verhallen zu lassen, hier ein Vorschlag zur Umsetzung[v] im Studienalltag: die Relecture[vi] eines Textes. Die erste Lektüre eines fremden und unbekannten Textes führt zu einer Annäherung an einige Punkte der Argumentation. Die erste Relecture ermöglicht ein tieferes Erfassen des fremden Gedankenganges – u.a. dadurch, dass man beim Lesen des Textanfanges diesen zugleich auf das nun bekannte Ende beziehen kann. Ein erster, wagemutiger Schritt auf dem unbekannten Pfad. Entscheidet man sich nun, auf diesem Weg weiterzugehen, so erfolgt eine sich erneut wiederholende Relecture und man kann vielleicht schon etwas verstehen, indem man spielerisch verschiedene Teile des Textes aufeinander bezieht und die Entwicklung des Gedankens und die Entfaltung der Idee nachvollzieht. Dies geschieht, indem die fremden Gedanken und Sätze zu eigenen Gedanken und Sätzen werden. Ich verstehe einen Text, indem ich in die Unvertrautheit und Unbekanntheit der fremden Denkschemata eintrete und in ihnen heimisch werde, mich staunend in ihnen umsehe und mit dem Unbekannten Bekanntschaft schließe. Indem ich immer wieder auf denselben Text zurückkomme, ihn in der Relecture immer wieder neu zur Hand nehme, ihn mit all seinen Eigenheiten und Merkwürdigkeiten immer besser kennenlerne und immer wieder-wieder-hole-hole, habe ich die Möglichkeit, einen Text zu verstehen. Im Textverstehen werde ich gleichermaßen vertraut mit dem, was ich begreife, sowie mit dem, was ich nicht begreife. Der Verstehensprozess in Spiralen vollzieht sich als Anfreunden mit dem unvertrauten Text. Die heute verbreitete Konsummentalität, die auf Einmaligkeit und Wegwerfen anstatt auf Wiederholung setzt, ist m. E. eine der größten gedanklichen Blockaden für die sich-wiederholende Verstehensspirale. Das Man wirft lieber weg und holt sich schnell etwas Neues, anstatt in Beharrlichkeit auf etwas Unbekanntes und vielleicht zunächst Widerspenstiges einzugehen. Der verstehende Mensch dagegen steht gleichsam in einem aktiven wie passiven Übersetzungsprozess; das Unvertraute muss erkundet und in den eigenen Verstehenshorizont übersetzt werden. Dabei ist im Vorteil, wer sich die Fähigkeit des Übersetzens gründlich erworben hat.[vii]

Die Phasen zwischen den Wiederholungen[viii] spielen in dieser Verstehensspirale eine ebenso wichtige Rolle wie die Phasen der Lektüre. Denn in diesen Zwischenzeiten geschieht ganz wesentlich die spielerische Beziehung zwischen dem Neuen und meiner Existenz, zwischen dem Eigenen und dem Fremden. Wie sich eine Freundschaft unter Menschen ganz wesentlich dann entwickelt, wenn wir Zeit und Muße haben, so entwickelt sich auch die Beziehung zu Gedanken während der ruhigen Mußestunden bspw. eines Spazierganges und nicht in den Stunden der Arbeit.

Im Verstehen eines Textes ereignet sich Freundschaft zu dem mir Unbekannten. Menschen können sich mit Gedanken anderer Menschen aus vergangenen Zeiten vertraut machen, sie kennenlernen, und sich am Gang ihrer Argumentation erfreuen. Wir Menschen sind dazu in der Lage, freundschaftliche Beziehungen zu Autoren*Innen zu führen. Auch wenn wir Autoren*Innen, die vor uns lebten, nicht mehr treffen können, so sind wir dennoch dazu imstande, ihnen in Gedanken zu begegnen. In den Texten, die sie uns hinterlassen haben, verbirgt sich gelebtes Leben und gedachte Existenz. In der Tradition der auf uns gekommenen Gedanken, finden wir die „Weltbemeisterung, auf die alle angewiesen sind.“[ix] In der Freundschaft zu einem Text, die sich durch Wieder-Wieder-holung-holung entwickelt, können wir fremde Gedanken verstehen. Jenseits dieses Verstehens haben die Geisteswissenschaften keine eigentümliche Perspektive; nur in diesem spielerisch-dynamischen Verstehen haben die Geisteswissenschaften eine Zukunft. Darum rufe ich hiermit die #KopernikanischeUniversitätswende und eine #NeueHermeneutik in den Geisteswissenschaften aus.

Meine hochverehrten Damen und Herren, liebes Publikum! Mit einer bunten Narrenkappe auf dem Haupte und einem dicken Buch unter dem Arme darf ich Sie hier und heute herzlich einladen zum Eintritt in die Spirale des Verstehens, zur verstehenden Wieder-Wieder-holung-holung, zur Lecture und Relecture alter und neuer Texte. Vergessen Sie Ihre Studienverlaufspläne! Angebrochen ist nun die kopernikanische Wende der Universitäten.

Willkommen im spielerischen Verstehen!
Willkommen im eigentlichen Studium!
Willkommen in der Zukunft!


[i] Kierkegaard, Søren: Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den philosophischen Brocken. Erster Teil, in: Ders.: Gesammelte Werke (16. Abteilung), Regensburg 1957, 65.

[ii] Vgl. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft 1 (stw 55), Vorrede B, Frankfurt a. M. 2014, 25.

[iii] Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode, in: Ders.: Hermeneutik I. Wahrheit und Methode (Gesammelte Werke, Bd. 1), Tübingen 1990, 19f.

[iv] Vgl. Gadamer, Hans-Georg: Klassische und philosophische Hermeneutik. 1968, in: Ders.: Hermeneutik II. Wahrheit und Methode (Gesammelte Werke, Bd. 2), Tübingen 1993, 109.

[v] An dieser Stelle sei dem Badener Kreis, ohne den weder die Erfahrung der Wieder-Wieder-holung-holung selbst, noch dieser Artikel möglich gewesen wäre, mein herzlichster Dank ausgesprochen!

[vi] Für diesen Begriff und seine Interpretation ergeht mein sehr herzlicher Dank an Herrn Prof. Wallacher, der ihn bei der Eröffnungsveranstaltung der HfPh München im April 2016 benutzte und erläuterte. Seitdem ist die Methode der Relecture wichtiges Prinzip meines Studierens.

[vii] Von diesem Punkt aus, also der Bedeutung des Übersetzens für jedes Verstehen, lässt sich der altsprachliche Unterricht in Latein und Griechisch nicht nur problemlos rechtfertigen, sondern für die individuelle Persönlichkeitsentwicklung sogar mit großer Notwendigkeit fordern. Daher sollte keine künftige Fachdidaktik der alten Sprachen auf derartige Reflexionen verzichten.

[viii] Dass ich die Bedeutung der „Pausen und Zwischenzeiten“ für das Verstehen und Lernen derart zu schätzen gelernt habe, verdanke ich Herr Prof. Brüntrup, der mir in seinen Vorlesungen mit solchen lerntheoretischen Überlegungen sehr weiterhalf und an den an dieser Stelle mein herzlicher Dank geht.

[ix] Vgl. Büchner, Karl: Einleitung, in: Ders. (Hg.): Latein und Europa. Traditionen und Renaissancen, Stuttgart 1978, 8f.

10 Kommentare zu „Die Wieder-Wieder-holung-holung

  1. Lieber Cornelius,
    vielen Dank für dieses Plädoyer zum subjektiven Denken. Ich unterstütze das Anliegen und möchte deswegen zwei Anknüpfungspunkte anbringen, an denen sich das hier angeschlagene Programm abarbeiten und in Beziehung setzen kann und muss.

    1. Man kann die systematische Bedeutung von subjektivem Wissen gegenüber dem objektiven Denken weiter stärken, indem man herausarbeitet, inwiefern jede Formulierung objektiven Denkens notwendigerweise aus einem Subjekt heraus gebildet wird. Das heißt nicht, dass man die begriffliche Unterscheidung aufgeben muss, sondern bloß, dass beide Typen untrennbar miteinander verbunden sind und in Wechselbeziehung zueinander stehen.
    Wenn man so will ist dies die Perspektive vom Standpunkt des objektiven Denkens heraus, das beobachtet, wo es herkommt und, insofern man die begriffliche Unterscheidung aufrecht erhält, wo es beginnt. Also ab wann subjektives Denken zum objektiven wird.

    2. Die gleiche Stoßrichtung lässt sich auch aus der Warte des subjektiven Denkens heraus betrachten: Wenn wir miteinander in einen Diskurs treten wollen (und scheinbar wollen und müssen wir das des öfteren), ist es notwendig das eigene Denken soweit allgemein verfügbar zu machen, dass andere es in ihren jeweiligen Existenzen und Situationen nachvollziehen können. Der Weg hin zu einem zumindest inter-subjektiven und vielleicht objektiven Denken erscheint hier als innere Notwendigkeit des Subjekts.

    (3. Wenn man tatsächlich über die subjektive Haltung gegenüber dem universitären Programm und die Frage, inwiefern man sich diesem in seiner aktuellen Ausgestaltung verpflichtet oder eben nicht, hinaus eine alternative Organisation universitärer Lehre proklamieren möchte, sind die ersten beiden Punkte zunächst zu durchdenken. Denn ein universitärer Dialog setzt sicherlich ein bestimmtes Maß an objektivem Denken voraus. Dass der subjektive Anteil im Moment zu kurz kommen mag ist tatsächlich kein Argument dagegen und liegt zu einem Teil eben auch in der Verantwortung der Subjekte sich einzubringen.)

    Liebe Grüße
    Lennart

    1. Lieber Lennart,

      vielen Dank für deine beiden Anknüpfungspunkte und den Punkt 3. Cool, dass du auf meinen Artikel reagierst! Da will ich doch auch gleich ein paar Zeilen schreiben: Deinem 1. Punkt mit der darin angesprochenen „Wechselbeziehung“ von subjektivem und objektivem Denken stimme ich zu. Allerdings würde ich ergänzen, dass man das subjektive Denken an Hochschulen nicht fördert, wenn man objektives Denken durch Prüfungen verlangt. Der Übergang von subjektivem ins intersubjektive Denken ist ein sehr empfindlicher Prozess, der zunächst sehr viel Zeit, Ruhe und Freiraum braucht, um sich überhaupt zu entwickeln. Im 1. Semester bereits mit einem fixen Lehrplan und mit benoteten Prüfungen Druck zu machen, fördert diesen Übergang in keiner Weise, sondern hemmt diese Entwicklung sehr sehr stark. Das wäre ungefähr so, als wollte man mit einem anderem Menschen eine Familie gründen und würde zu diesem Zweck mit Brecheisen, Sturmhaube und Kalaschnikow in dessen Wohnung einbrechen und ihn bedrohen.
      Auch Punkt 2 stimme ich zu. Das würde für mich v.a. bedeuten: Mehr Lektürekurse und Seminare mit offenen, gut geleiteten und thematisch fundierten Diskussionsrunden (gerne auch mit verteilten Rollen), sowie eine intensivere Rhetorik-Ausbildung im Philosophiestudium. Weniger Einführungs- und Überblicksveranstaltungen und grundsätzlich kein fest vorgeschriebenes Punkte- oder Kurspensum pro Semester.
      Beim 3. Punkt bin ich nicht sicher, ob ich dein Anliegen richtig verstanden habe. Ich höre oft das Argument, dass „die Sache mit dem subjektiven Denken“ doch in jedes einzelner Verantwortung läge. Da würde ich im Prinzip natürlich zustimmen und ich betone das ja sogar in meinem Artikel, wenn ich schreibe „man kann sich selbst im Verstehen nicht überspringen“. Um diese Verantwortung jedoch überhaupt wahrnehmen zu können und sich nicht aus der Hand nehmen zu lassen, braucht man Zeit und Freiraum. Wenn der Studienverlaufsplan vollgestopft ist mit Einführungen, Prüfungen mit Stoff zum Auswendiglernen etc. und anderen Vorgaben, dann hat das Subjekt daneben einfach nicht die Zeit, sich seinem subjektiven Denken und seinen Interessen sinnvoll zu widmen. Ich würde dir zustimmen, dass ein universitäres Programm ein gewisses Maß an intersubjektivem Denken braucht. Wenn man einige Semester Zeit hatte, intensiv zu studieren und seine Interessen zu vertiefen, und wenn man in Begleitung und Zusammenarbeit mit den Lehrenden einige Entwicklungsschritte gegangen ist, dann wird sich ein Übergang vom subjektivem zum intersubjektiven Denken wie von selbst einstellen – auch wenn sich der Zeitpunkt nie genau planen lassen würde. Wenn man ohnehin regelmäßig mit seinem Professor / seiner Professorin über seine Entwicklung und seine Projekte spricht, dann kann da auch gerne mal eines dieser Gespräche benotet sein – insoweit bin ich ja überhaupt kein prinzipieller Gegner von Prüfungen. Was dagegen aktuell mit diesen ganzen Prüfungen gemacht wird, wäre zu vergleichen mit einem begabten Musikstudierenden, den man unterschiedliche Lehrbücher und Interpretation über die großen Werke berühmter Komponisten auswendig lernen lassen würde in der Hoffnung, dass er danach ein geübter Pianist ist und sein Instrument beherrscht. Ich denke, es ist offensichtlich, dass das nicht passieren würde, denn jede*r weiß, was zu tun ist, um eine Sache zu erlernen: Lehrbücher beiseitelegen, die großen Partituren schnappen und üben, üben, üben…

      Viele Grüße aus Freiburg, Cornelius

  2. Ich bin ganz begeistert sowohl von dem Artikel als auch von den beiden Kommentaren. Vielen Dank.
    Nun bin ich kein Student, stehe eher auf der anderen Seite, lehre Philosophie der Psychologie und Psychoanalyse, hadere aber mit genau diesen Punkten. Wie auch im Artikel schon erwähnt ist subjektives Denken Beziehung, oder – ich möchte es etwas anders ausdrücken – nur durch Beziehung möglich. Lernen, also echtes Lernen, nicht Rekapitulieren von schon -zig mal Gesagt oder Geschriebenem, wäre somit etwas, das nur zwischen Menschen möglich ist, nicht zwischen einem Menschen und einem „leeren“ Gedanken, einem Buch (das diesen konserviert) oder ähnlichem.
    Warum ist es überhaupt möglich, Studenten und Studentinnen mit so etwas eindimensional Unsinnigem wie Multiple-Choice-Prüfungen zu traktieren, warum laufen viele Studenten und Studentinnen hinter ECTS her, mit dem Ergebnis einer Ansammlung von Faktenwissen ohne Gehalt, ohne Leben? Sie haben in 12 Jahren Schule wahrscheinlich gründlich verlernt, zu fragen! Es ist schön und nett, wenn man große Teile von Wittgensteins „Tractatus“ wiederkäuen kann, ein anatomisches Konstrukt aufsagen oder eine komplizierte math. Formel weiß. Wirklich gelernt, wirklich verstanden habe ich das alles erst, wenn ich keine Fragen mehr dazu habe, wenn ich in lebendiger Diskussion (ein Blick auf britische Universitäten) eine Auseinandersetzung mit den Gegenständen zumindest versucht habe.
    Den öst-amerik. Psychoanalytiker und Philosophen Rudolf Ekstein paraphrasierend, der mir mal gesagt hat : „Es ist die Beziehung, die heilt!“, möchte ich sagen: es ist die Beziehung, die lehrt, durch die ich lerne, die lebendige, streitbare Beziehung.
    Vielleicht zwingt uns, aber besonders auch junge Menschen, ja vielleicht das gegenwärtige Geschehen, mehr Fragen zu stellen… und diese dann in die Universitäten zu tragen.

    Schöne Grüße!

  3. Liebe Leute,

    ich möchte zu Euch beiden antworten bzw. den Diskurs weiterführen.

    Die Punkte 1 und 2, die ich angeführt hatte, waren nicht nur auf die universitäre Lehre bezogen, sondern auch auf die Stellung des Subjekts im philosophischen Diskurs oder einer Theorie des Denkens überhaupt.

    Eine andere Ebene auf die wir uns nun ausgehend von dem Konsens, dass subjektives Denken notwendig für sinnvolles Philosophieren ist, gemeinschaftlich begeben haben ist die der praktischen Umsetzung universitärer Lehre. Hier gibt es schematisiert zwei verschiedene Akteure, der Lehrkörper, als Institutionen, Vorgaben und Personen, sowie den Lernenden als Individuum.

    Dazu hatte ich gesagt, dass man es zu einem gewissen Teil selbst in der Hand hat seinen Studienverlauf zu bestimmen. Niemand muss so gesehen ECTS hinterherlaufen.

    Andererseits bestimmen organisatorische Vorgaben, ganz gleich wie sehr man sich ihnen verpflichtet wird, den studentischen Alltag (ebenso wie denen der Lehrenden). Gegeben, dass man sein individuelles Philosophieren mit einem akademischen Titel (BA, MA, PhD) versehen lassen möchte, liegen dort Vorgaben vor.

    Tatsächlich unterscheiden sich die Durchführungspraktiken mitunter sehr von Uni zu Uni. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass auch gegebene Bundes- oder Landesgesetze oder gar internationale akademische Standards doch in der jeweiligen Universitäts- und sogar Fachbereichspolitik stark beeinflussbar sind. Die Entscheidungsträger dieser Ebenen sind in spürbarer Reichweite der Studierendenschaft und das kann man sich zu Nutze machen!

    Mfg Lennart

  4. Lieber Hans Saloga, Lieber Lennart,

    vielen Dank für eurer beider Beiträge und die Weiterführung des Diskurses. Da mir auch noch zahlreiche weitere Gedanken durch eure Impulse gekommen sind, möchte ich zumindest versuchen, ein paar davon hier zu teilen:
    @Hans Saloga: Vielen Dank für die Überlegungen zum Begriff der Beziehung! Zu diesem Thema hat der Fundamentaltheologe Peter Knauer SJ einen sehr interessanten theologischen Ansatz entwickelt; das entsprechende Buch habe ich im Artikel „Wirklichkeit als Beziehung. Das Konzept der relationalen Ontologie bei Peter Knauer“ rezensiert (s. FUNZEL Nr. 2 „Das Gute, Wahre, Schöne . auf der Jagd nach dem weißen Mammut“ oder https://funzel.blog/2019/05/12/wirklichkeit-als-beziehung-das-konzept-der-relationalen-ontologie-bei-peter-knauer/). Die Bedeutung von Beziehung für Bildungsprozesse ist ein Thema, über das ich immer wieder ins Nachdenken komme. Zwei Punkte, die ungefähr so zur Intention meines Artikels gehören: Die Dimension der Beziehung wird durch strukturelle Vorgaben aus der Politik, die auf empirischen Studien basieren, systematisch ausgeblendet. Das verändert universitäres Studium stark und häufig zum Nachteil für die Bildung der Studierenden, für die Lehre der Dozierenden und für die Aufgaben der Administrierenden. Zweitens habe ich – und hiermit würde ich dir, Hans, ein wenig widersprechen – versucht, die Dimension der Beziehung auch auf das Verhältnis des Einzelnen zur Literatur zu übertragen. Im geschriebenen Wort sind Gedanken und Geist lebender und verstorbener Schriftsteller*Innen und Philosophen*Innen erhalten. Das ist m. E. ein nicht zu unterschätzendes Geschenk – gerade heute, da philosophische Literatur leichter zugänglich ist denn je zuvor. Zu diesem Gedankengut kann m. E. eine sehr produktive geistige Beziehung entstehen – sofern Zeit und Muße ausreichend vorhanden sind. Und: Sofern die Qualität der Texte stimmt. Ein Leitfaden für diese Textqualität bilden m. E. die sog. „Klassiker“, also die Texte, die nicht nur eine Person, sondern gleich mehrere Personen für lesenswert erachtet haben und erachten.
    @Lennart: Vielen Dank für deine weiterführenden Gedanken und deinen Impuls, sich hochschulpolitisch zu engagieren. Das halte ich prinzipiell für sehr befürwortenswert und ich habe Hochachtung vor jeder*m, der*die in dieser Hinsicht aktiv ist. Kritisch würde ich dabei dennoch anmerken: Wenn man das tut, muss man sich klar darüber sein, dass das oft zeitintensive Prozesse sind, bei denen man immer weiter machen kann. Dann bleibt aber gerade wieder weniger Zeit für die Lektüre – wofür Freiraum zu gewinnen ja mein Ziel war. Dem Satz „Niemand muss so gesehen ECTS hinterherlaufen.“ würde ich vehement widersprechen, denn er sagt m. E. nicht viel mehr als „Niemand muss irgendwas.“ Klar ist die Freiheit von uns allen die Grundlage schlechthin und man muss im Grunde überhaupt nichts. Aber sofern man nicht ohne Abschluss dastehen, ins Abseits der Gesellschaft gedrängt oder seine Freunde verlieren will, steht man nun mal unter gewissen Bedingungen, die die Hochschulen vorgeben. Dass man den ECTS nicht hinterherlaufen muss, das gilt wohl nur für diejenigen, die finanziell bereits glücklich ausgesorgt haben. So gesehen hat die ECTS-Reform die freie Bildung zur elitären Luxusware gemacht. Ich würde dir natürlich zustimmen, dass vieles auf einen kreativen Umgang mit den politischen Vorgaben ankommt und man sich auch im heutigen System eine gewisse Freiheit erarbeiten kann. Mein Artikel ist ja auch genau ein Statement zu einem solchen kreativen und selbstbestimmten („eigentlichen“) Studieren und plädiert dafür, dass nicht die Politik und nicht der Studienverlaufsplan, sondern jede*r einzelne in Beziehung zu den Lehrenden am besten weiß, was gut für ihn ist und was er als nächstes lesen oder wieder-wiederholen-holen möchte. #KopernikanischeUniversitätswende
    Als kleiner Teaser: Die FUNZEL_Autorin Hannah Schey hat auf meinen obigen Artikel ebenfalls reagiert und einen Text verfasst, der dieses Thema weiterdenkt. Ihr Artikel erscheint heute oder in den nächsten Tagen (genau weiß ich das nicht) hier auf dem Blog: https://funzel.blog/author/hannahschey/

    Es verbleibt mit den besten Grüßen aus Freiburg,

    Cornelius

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