Lebendige Wesen

„Ich sage euch: man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können. Ich sage euch: ihr habt noch Chaos in euch.“ – Nietzsche

 

Als ich den Titel dieser Ausgabe der Funzel [Nr. 3 – Treibsamt und Brandung; Anm. d. Red.], hörte, musste ich sofort an den großen Überwinder des Nihilismus denken. Leid, Sinnlosigkeit, Langeweile und Orientierungslosigkeit spielen eine zentrale Rolle in der Philosophie des Mannes, den Frauen sein Leben lang aufgrund seines übermäßigen Schnauzers verschmähten und dessen akademische Laufbahn so schnell endete, wie sie begann. Eine wechselhafte Gesundheit tat das Übrige, um ihn sämtliche Facetten des Leides und Nihilismus durchleben zu lassen. Die Reaktion war eine interessante: Trotz seiner eigenen Schwäche erhob er diese nicht – wie seiner Meinung nach das Christentum – zur Tugend, sondern entwickelte eine Ethik der Stärke, die als zentralen Begriff den Willen zur Macht stark macht. Man beachte jedoch, dass nicht die Macht, sondern der Wille zur Macht das eigentliche Gut für ihn ist. Wachstum und ein heiliges Ja zum Leben, zum Schaffen, zum Stärkerwerden sind die Attribute seines Übermenschen. Sein Spruch „Was mich nicht umbringt, macht mich stärker“ ist weltberühmt geworden.

Wogegen stellt sich Nietzsches Ethik? Gegen das Christentum, wie er es interpretiert. Doch auch das Christentum hat das Leid als zentralen Begriff und ist ebenso wie Nietzsche eine mögliche Antwort auf das Gefühl der Sinnlosigkeit. Hier wird das Mitleid mit Schwäche gelobt und die Tyrannei der Starken, von einem noch stärkeren und angeblich unendlich guten Gott bestraft. Das diesseitige Leid wird durch die Erlösung der Leidenden im Jenseits gerechtfertigt. Wir haben also zwei absolut gegensätzliche Antworten auf dasselbe Phänomen. Auch andere Religionen bieten solche Antworten, die sehr verschieden ausfallen. Politische Ideologien und philosophische Schulen konkurrieren ebenfalls auf diesem Feld der Sinnangebote. Man sollte also meinen, dass es bei solch einem Überangebot keine Nihilisten mehr geben sollte, doch das Gegenteil ist der Fall: Serien mit hochgradig nihilistischen Sichtweisen, wie Rick and Morty oder Bojack Horseman sind internationale Kassenschlager, depressive Erkrankungen – welche als Indikator für einen pathologischen Nihilismus dienen können – sind keine gesellschaftlichen Randphänomene, sondern weit verbreitet, der Nihilismus scheint auf dem Vormarsch.

Doch zurück zu Nietzsche: bei ihm findet sich eine Antwort auf den Nihilismus, die heute noch so aktuell ist wie damals, wenn nicht sogar aktueller. Der Nihilismus sei als notwendiges Stadium für die Freiheit des Individuums notwendig. Der Mensch, der sein ganzes Leben die zahlreichen Sinnangebote von außen einfach angenommen hat und sich – wie das Kamel – mit ihnen schwer beladen hat, muss zum Löwen des Nihilismus werden und alles verneinen, um an den Punkt kommen zu können, an dem er – dem Kinde gleich – seine eigenen Werte aus sich selbst heraus schaffen kann. Nur Werte, die der Mensch aus sich selbst heraus geschaffen hat, können dem Nihilismus widerstehen. Nur sie können vor dem prüfenden Auge des Löwen bestehen. Wenn der Mensch nicht mehr mechanisch nach den Regeln lebt, die ihm von außen diktiert wurden, nur dann kann er wirklich lebendig sein, kann er wirklich Mensch sein, kann er wirklich Schöpfer sein, kann er wirklich Gott sein.

Ist dem Universum alles egal, dann ist nichts vorgegeben. Der Mensch kann seine ihm vorbestimmte Rolle als Schöpfer einnehmen. Doch wie wird man zum Erschaffer seiner eigenen Werte? Die Antwort liegt geradezu lächerlich nahe: Man blickt in sich selbst hinein, beobachtet jedes Zucken des eigenen Seelenlebens, bleibt aufmerksam für jede noch so unerreichbare Vision, die leise und versteckt am Rande des eigenen Bewusstseins zu blühen beginnt. Viele Wege führen an dieses Ziel: Manche suchen sich in Reisen um die Welt zu finden, manche versenken sich in die dionysischsten Zustände, um dort ihr wahres Ich zu finden, andere setzen sich auf einer stillen Waldlichtung nieder und hören den leisen Schlägen ihres Bewusstseins zu, um nur einige Möglichkeiten zu nennen. Das Individuum kommt nicht darum, seinen eigenen Weg zu suchen, zahlreiche Irrwege in Kauf zu nehmen, um am Ende anzukommen. Und von dort die nächste Reise auf sich zu nehmen. Das Spiel des Werteschaffens endet nicht. Es erfordert Leidenschaft und eine bedingungslose Liebe zum Wandel. Doch diejenigen, die es spielen gewinnen mehr, als nur eine Zuflucht vor der Sinnlosigkeit. Sie gewinnen sich selbst. Sie werden zu wahrhaft lebendigen Wesen.

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