Die Gewöhnung an den Ausnahmezustand

Eine Philosophische Notiz

Als der erste Corona-Fall in Europa bekannt wurde, zählte ich zu den Unglücklichen, die sich gerade in Italien aufhielten. Unglücklich natürlich erst im Nachhinein, zum damaligen Zeitpunkt hätte ich mich ohne zu Zögern zu der Teilmenge deutscher Staatsbürger gezählt, die auf der Sonnenseite des Lebens stehen (und das im wahrsten Sinne des Wortes.)

Seit einer guten Woche befinde ich mich in freiwilliger Quarantäne, am Freitag Abend begann die generelle Ausgangssperre. Ich verbringe meine Zeit leidlich damit, in Gedanken Luftschlösser zu bauen und diese, einer gewissen masochistischen Veranlagung folgend, genüsslich wieder einstürzen zu lassen. Seit geraumer Zeit versuche ich, einen Text für die Funzel zu produzieren, doch es will mir nicht so recht gelingen. Da auch ich der Digitalisierung anheim gefallen bin und inzwischen auf dem Tablet schreibe, bleibt mir sogar die Genugtuung vorenthalten, die eben geschriebenen Texte zu zerreissen und mit einer lockeren Bewegung aus dem Handgelenk in den Papiermüll zu befördern. Aber ich stelle es mir gerne vor.

Ich lasse meinen Apple-Pen um meinen Daumen kreiseln, eine Fähigkeit, die ich seit einer Woche zur Perfektion bringe und die mich durchaus mit einigem Stolz erfüllt. Ich fühle mich, als ob ich am größten gesellschaftlichen Experiment des 21. Jahrhunderts teilnehme. Eine Freundin schickt mir Bilder von leergekauften Supermärkten. Ich frage mich, ob diese Zeit unsere Gesellschaft tiefgreifend verändern wird. Nicht so sehr das Virus selbst, eher die daraus resultierenden Maßnahmen: Quarantäne, Ausgangssperre, Europa in Atempause. Alles, oder bloß die Ruhe vor dem Sturm?

Angela Merkel spricht in ihrer Ansprache davon, dass wir gesellschaftlich gesehen der größten Herausforderung seit dem zweiten Weltkrieg gegenüberstehen. Aber diese Krise ist grundlegend anders als alles, mit dem wir zuvor konfrontiert waren.

Denn der Mensch ist nun mal ein Herdentier. [1] Schwierige Zeiten bewältigen wir in der Gemeinschaft, durch Zusammenhalt, greifbar gemacht durch körperliche Nähe. Nichts spendet so sehr Trost wie eine Umarmung, sich zu berühren, aber auch: sich als Teil einer Gemeinschaft zu fühlen, vereint mit anderen Menschen, die das selbe Ziel haben. Die Corona-Krise ist auch gerade deshalb eine so große Herausforderung, weil sie von uns verlangt, dieses tiefsitzende menschliche Bedürfnis nach Nähe zu negieren. Oder ist es möglich, dieses auf anderem Wege zu stillen?

Auch wenn wir physisch auf Distanz gehen müssen, schaffen wir es, soziale Nähe zu erhalten?

In Italien befinden sich die Menschen schon seit über einer Woche unter Hausarrest. Weil es unmöglich ist, sich am Nachmittag mit den Freunden zu treffen, verabredet man sich über das Internet: Gruppen-Video-Telefonate, online-Lerngruppen, landesweit geteilte Yogastunden, an denen die Menschen vor dem eigenen PC teilnehmen. Schaffen wir es, so ein Gemeinschaftsgefühl zu erzeugen, ohne uns angreifbar für das Virus zu machen? Zusammen, und doch jeder für sich alleine?

In seinem Aufsatz Content- and Medium-Specific Decomposition of Friendship. Relational Maintenance: Integrating Equity and Media Multiplicity Approaches schreibt A. Ledbetter:

„[F]aceto-face relational maintenance predicts interdependence significantly more strongly than does online relational maintenance. Interdependence, in turn, significantly predicted control mutuality“ [2]

 Das bedeutet, dass zwischenmenschliche Beziehungen, die auf echtem Kontakt beruhen, erheblich stärker sind als solche, die nur online gepflegt werden. Kommunikation via Video und Co kann uns also vielleicht während der Quarantäne einen unzureichenden Ersatz für face-to-face Kommunikation bieten, die selbe Qualität auf der Ebene der zwischenmenschlichen Beziehungen lässt sich jedoch nicht erreichen.

Haben wir trotzdem Möglichkeiten, unsere sozialen Bindungen zu stärken?

Wenn meine italienischen Freunde miteinander telefonieren, geht es immer zu einem Großteil um die Zeit danach. After-Quarantäne-Parties werden geplant, Urlaube, die man zusammen verbringen wird. Eine gemeinsame Zukunft zu haben, schafft Gemeinschaft. Aber wie lange lässt sich das aufrecht erhalten? Wie lange kann man planen ohne umzusetzen? Und wird die Umsetzung letzten Endes vielleicht obsolet, die Planung zum reinen Selbstzweck, um ein Gefühl von menschlicher Nähe zu schaffen?

Inwieweit formt die Isolation unser soziales Zusammenleben der Zukunft?

Nicht nur in Italien, auch in Deutschland ist die Internetnutzung drastisch gestiegen. Die DE-CIX verzeichnet seit Mitte März eine sprunghafte Zunahme von Netzaktivität . [3] Das ist natürlich nicht nur auf die Nutzung von sozialen Netzwerken zurückzuführen, sondern auf die Gesamtsituation: Menschen arbeiten im Homeoffice und eingekauft wird, soweit möglich, online. „We are seeing a significant increase in demand“ ,  schreibt Amazon auf seinem Blog und schreibt 100 000 neue Stellen aus. [4] Die Gewinner der Krise sind also klar, die Verlierer: Der Einzelhandel.

Die Frage ist, wie sehr die Maßnahmen gegen die Verbreitung des Virus unsere Geschäftswelt und Kaufverhalten nachhaltig verändern. Zum einen dadurch, dass viele der kleinen Läden die Zeit der Ausgangssperre und der zwangsmäßigen Ladenschließungen vielleicht wirtschaftlich nicht überstehen und Insolvenz anmelden müssen. Zum anderen, weil der Mensch ein Gewohnheitstier ist. Zwischen einem Drittel und der Hälfte aller unserer täglichen Aktivitäten führen wir gewohnheitsmäßig jeden Tag und am selben Ort aus. [5] Wenn wir uns einmal daran gewöhnt haben, Kleidung, Seifenblasen und Spülschwämme online zu bestellen, gibt es keinen Grund, uns wieder umzustellen. Vorausgesetzt natürlich, es funktioniert.

Wie nachhaltig sich unser Kaufverhalten dabei verändert, hängt auch und vor allem davon ab, ob der jetzige Ausnahmezustand zum Normalzustand wird. Denn die Stärke von Gewohnheit und damit auch deren Einfluss auf unser Verhalten hängt davon ab, wie oft wir dieselbe Handlung in der Vergangenheit ausgeführt haben. Wenn wir unzählige Male online eingekauft haben, werden wir in Zukunft gar nicht mehr die Alternativen in Betracht ziehen, sondern vielmehr automatisiert auf dieses Handlungsmuster zurückgreifen.

Dabei bleibt aber natürlich fraglich, wie viel wir während der Ausgangssperre tatsächlich online bestellen: Flüchten sich die Menschen in Hamsterkäufe, solange noch die Möglichkeit besteht? Oder bricht die Konsumwut ein, weil uns Corona auf den Magen und den Geldbeutel drückt?

Fraglich bleibt auch, ob Online-Einkaufen wirklich die shopping-experience eines Samstagnachmittags in der Fußgängerzone ersetzen kann? Schafft es der Stihl-Online-Shop, das gleiche Gefühl zu vermitteln wie stundenlanges Fachsimpeln mit dem inzwischen schon leicht angespannt lächelnden Obi-Fachverkäufer?

Anders sieht es meiner Meinung nach bei den Gebrauchs-und Verbrauchsgütern des täglichen Bedarfs aus. Toast-Brot und Glasreiniger zu kaufen war noch nie sonderlich sexy und vielleicht gewöhnen wir uns hier nur allzu gerne an eine Lieferung frei Haus.

Wenn, in unbestimmter Zeit, die Ausgangssperre aufgehoben ist, dann ist das Coronavirus höchstwahrscheinlich noch nicht besiegt. Aber schon da wird es unsere Gesellschaft verändert haben. Denn wenn sich unser ökonomisches Handeln, die soziale Beziehung zu unseren Mitmenschen, wenn sich grundlegende Routinen langfristig verändern, dann ist es fraglich, ob wir einfach so zu unserem alten Leben zurückkehren können.

Das ist keineswegs nur negativ gemeint. Veränderung bringt immer auch Chancen.

Wandel könnte uns helfen, eine resilientere Gesellschaft zu bilden, die auch mit zukünftigen Krisen besser umgehen kann.

Denn wer weiß, nach der Quarantäne ist vielleicht auch vor der Quarantäne. Bis dahin verbringe ich meine Zeit damit, meinen Apple-Pen um meinen Daumen kreisen zu lassen und vielleicht, ganz vielleicht, schaffe ich es ja sogar, einen Artikel für die Funzel online zu stellen.

 


[1] Schäfers B. (2006): Die soziale Gruppe. Korte H., Schäfers B. (eds) Einführung in Hauptbegriffe 1 der Soziologie. Einführungskurs Soziologie, S. 127-143 Siehe S. 128: „Anthropologisch kann davon ausgegangen werden, dass der Mensch von seiner Organausstattung her ein Gruppenwesen ist. Rein zeitlich betrachtet lebte der Mensch über die mit Abstand längsten Phasen seiner Geschichte in Horden und Klans (Gruppen in einem Stamm, die miteinander verwandt sind), in erweiterten Familiengruppen und überschaubaren Stammesorganisationen“

[2] Ledbetter, Andrew M. (2010): Content- and Medium-Specific Decomposition of Friendship 2 Relational Maintenance: Integrating Equity and Media Multiplicity Approaches. Journal of Social and Personal Relationships 27 (7), S. 938-955, S. 946

[3] https://www.de-cix.net/de/locations/germany/frankfurt/statistics, Stand 20.03.20203

[4] https://blog.aboutamazon.com/operations/amazon-opening-100000-new-roles, Stand 4 20.03.2020

[5] Wood, W., Quinn, J.M., Kashy, D.A. (2002): Habits in everyday live: Thought, emotion, and action. Journal of Personality and Social Psychology, S. 83   Auch wenn diese Ergebnisse auf der Beobachtung von Studierenden beruhen und sich Abweichungen aufgrund von Population oder Kultur ergeben können, gibt es sonst keinen Grund anzunehmen, dass diese Ergebnisse nicht verallgemeinerbar wären (vgl. Verplanken, B. (2018): The psychology of habit: theory, mechanisms, change, and contexts, S. 1) vgl. Verplanken, B. (2018): The psychology of habit: theory, mechanisms, change, and contexts, 6 S. 5

2 Kommentare zu „Die Gewöhnung an den Ausnahmezustand

  1. Ähnliche Gedanken trage ich auch schon ein paar Tage mit mir herum, möchte aber noch ein paar hinzufügen, nachdem ich – sozusagen eher Papier-sozialisiert – die Ideen mit einem um den Daumen kreisenden Füller skizziert habe:

    So wenig es derzeit darum geht, die aktuellen Vorsichtsmaßnahmen zu boykottieren oder zu desavouieren, so sehr bleiben es außerordentliche Einschränkungen bürgerlicher Rechte in einer demokratischen, freiheitlichen Gesellschaft. Deshalb sollten wir uns die Balance staatlicher Macht und bürgerlicher Freiheiten vor Augen führen – damit eben nicht das geschieht, wovor manche warnen, nämlich ein sanftes Übergleiten einer Ausnahmesituation mit bestimmten Restriktionen in einen Normalzustand beziehungsweise ein späterer Missbrauch dieser Ausnahmesituation durch tatsächlich antifreiheitliche, antiliberale Herrschaftswünsche. Und unter diesem Aspekt betrachtet könnte man auf den – zugegeben bösen – Gedanken kommen, die ganze Pandemie werde als “Testfall“ für andere Szenarien missbraucht. Abgesehen von dem wirklich schädlichen Politikergerangel, wer denn nun der bessere Krisenmanager sei (populistische Profilierung für die nächste Wahl), lässt sich gut ablesen, in wieweit die Bürger Einschränkungen ihrer Rechte – Grundrechte wohlgemerkt – akzeptieren und wie lange. Und verfolgt man die Aussagen in Talkshows und Interviews der letzten zwei Wochen, dann kann man zu der Annahme gelangen, dieser Gedanke sei richtig.
    Was mir aber bei der ganzen Geschichte das meiste Kopfzerbrechen bereitet, das sind die jungen Menschen, Jugendliche und Heranwachsende, die das Geschehen kritiklos hinnehmen, zT sogar gut finden. Dass ich im politischen Lager der mitte-rechts und rechts-konservativen Parteien Zuspruch zu diesem Handeln finde, ist mir auch klar, aber unter der Jugend…
    Diese Pandemie wird uns verändern. Einige werden erfahren, was Freundschaft, Beziehung, Vertrauen wirklich bedeuten, in Summe aber werden die Folgen für unser zwischenmenschliches Sozialleben verheerend sein. Wir werden die Fähigkeiten zu Vertrauen, zu Freundschaft, zu Beziehungsfähigkeit allgemein für lange Zeit verlieren, der Glaube an Recht, Menschenrechte, wird, wo noch vorhanden, schweren Schaden nehmen über lange Zeit, weit länger als das Virus uns irgendwie beschäftigen wird.

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