Lob der Oberflächlichkeit

Kommunikation wird manchmal mit einem Eisberg verglichen. Demnach ist das, was verbal ausgesagt wird, nur die Spitze des Eisbergs, also dessen, was tatsächlich gemeint ist. In den Augen mancher ist das, was da unter Wasser ist, bedeutender als der Teil „an der Oberfläche“ der Botschaft. Ob das stimmt oder nicht, will ich hier nicht diskutieren. Aber ich behaupte, dass dieses Bild auf das Kunstverständnis mancher Menschen zutrifft: das, was tatsächlich zu sehen ist, ist nicht das Eigentliche. Eigentlich versteckt sich im Kunstwerk eine Fülle an Bedeutung, Symbolen, verschlüsselten Botschaften, kurz: Dingen, die „herausgeholt“ werden wollen, aber nicht sichtbar sind. Doch eine Fülle dieser Art gibt es, oft – eigentlich – nicht, und dann passiert es, dass wir völlig ratlos vor einem Werk stehen und nicht wissen, was wir damit anfangen sollen.

Mein Eindruck ist, wie gesagt, dass wir, wenn wir uns mit Kunst beschäftigen gerne das, was ein Kunstwerk tatsächlich ist, das Sichtbare, der Klang… für den Ausdruck von etwas ganz Anderem nehmen. Ein Kunstwerk zu verstehen wäre dann eine Frage von Abstraktion, die Suche nach dem großen unsichtbaren, unteren Teil des Eisberges. Das ist vermutlich auch in vielen Fällen eine sinnvolle und weiterführende Herangehensweise. Aber in manchen, vermutlich in mehr Fällen als man denken würde, führt es dazu, ein Werk als das, was es eben an der schieren Oberfläche ist, nicht genügend wertzuschätzen. Weil uns dadurch viel entgeht, möchte ich hier eine Lanze für eine recht verstandene Oberflächlichkeit brechen. Um herauszubekommen, wann so eine Herangehensweise hilfreich ist, empfiehlt es sich, sie einmal versuchsweise in das Repertoire seiner rezeptiven Praktiken aufzunehmen und ein paar Erfahrungen damit zu sammeln.

Wenn ich mir z.B. den Adonis von Thorvaldsen (in der Neuen Pinakothek in München, derzeit aufgrund der Renovierung jedoch leider nicht ausgestellt) anschaue, kann ich ihn als Aufhänger nehmen um, alsbald ich den Titel gelesen oder die Ikonographie identifiziert habe, dazu überzugehen zu erklären, welche Rolle Adonis denn in der Mythologie spielt, wie er da einzuordnen ist, was für eine Weisheit dahinter stecken mag und dergleichen mehr. Dann war der Gang ins Museum eine gute Gelegenheit, meine Bildung zu testen bzw. zur Schau zu stellen. Aber trotzdem entgeht einem etwas, wenn man zu schnell zu viel in ein Kunstwerk hineininterpretiert. Bei dem besagten Adonis z.B. – Überraschung! – die unglaublich kunstfertig bearbeitete und ziemlich spannende Oberfläche der Statue – Haut, Haare, Hasenfell, Baumstumpf… Ich würde jeden sehr dazu ermuntern, sich einmal nur für einige Minuten in die Oberfläche eines Werkes zu versenken. Dadurch könnte man überdies zumindest teilweise das Klischee entkräften, dass Kunst langweilig ist und ohnehin nur eine gesellschaftliche Elite etwas damit anfangen kann. Ich glaube man versteht besser, was z.B. dieser Adonis ist, was er zu sagen hat, wenn man sich zuerst lange an seiner Oberfläche aufhält, sie auf sich wirken lässt, dann zur Gesamterscheinung des Gegenstandes übergeht, um schließlich zuletzt noch historische und mythologische Hintergrundinformationen heranzuziehen.

Ein Nachteil eines solchen Vorgehens ist, dass es länger dauert und unter Umständen weniger verbal Ausdrucksfähiges hervorbringt, als das der Fall wäre, wenn man das Werk als „Aufhänger“ nimmt, um sofort einen Haufen Vorwissen zu reproduzieren und sich so der Illusion hingeben zu können, man würde die Kunst verstehen. Eine Illusion ist das deswegen, weil das, was in diesem Falle abgelassen wird, eben letztens nichts ist, was tatsächlich dazu beiträgt, etwas oder gar die Kunst zu verstehen, da es nicht aus dem Gegenstand selbst entwickelt, sondern ihm überfallartig übergestülpt wurde. Es ist also vielleicht nach außen weniger aufsehenerregend, was man mittels einer recht verstandenen Oberflächlichkeit erfährt. Wenn man sich an sie hält, hat das aber den Vorteil, dass die neuen Kenntnisse tatsächlich von dem Ding kommen, das man verstehen will. Man könnte auch sagen: es ist besser, Einsichten aus einer Sache heraus, statt in sie hinein zu interpretieren.

Um zurück zum Eisbergmodell zu kommen: natürlich kann ich mir viele Gedanken darüber machen, wie der Eisberg unter der Oberfläche aussehen mag und es gibt genügend Fälle, in denen das ratsam ist. Aber ganz unmittelbar und im Kontext von Kunst hilft das oft wenig (für den Kapitän der Titanic wäre es eine andere Sache gewesen…), da ich diese Tiefe niemals zu Gesicht bekommen werde, sie insofern nichts mit mir zu tun hat. Und das macht auch nichts – die Oberfläche ist selbst schon spannend genug!

(Abbildung: Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Neue Pinakothek. https://www.sammlung.pinakothek.de/de/artist/bertel-thorvaldsen/adonis)

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