Weht der Geist des Humanismus im Internet?

Illustration: Anna Welschof ( https://www.instagram.com/youbetterfindout/ )

Diese Frage mag grotesk erscheinen. Manch einer sieht im Internet nur eine Technologie – frei von theoretischem Überbau und jeglichen -ismen. Doch das Internet geht weit über bloße Technik hinaus, es ist vielmehr das Pendant zum öffentlichen Raum im digitalen Zeitalter. Nicht nur für Millenials ist Onlinesein ein wesentlicher Teil des Menschseins. Insbesondere zur Selbstentfaltung und Selbstdarstellung nutzen wir das Netz als Bühne. Selbstentfaltung schreibt sich auch der Humanismus auf die Fahnen, sogar in zweifacher Hinsicht: Zum einen soll sich jedes Individuum bilden und „edel, hilfreich und gut”[i] sein, zum anderen soll die Menschheit als Ganzes nach ihrer Blüte streben (vgl. „human flourishing” bei Pinker[ii]). Somit stellt sich die Frage, inwiefern das digitale „Neuland“ humanistischen Ideen zuträglich ist, oder ob die Technik gar ein Hindernis ist, diese Ideale zu verwirklichen. Im Folgenden wollen wir uns um Antworten bemühen.  

Ende der 60er Jahre entwickelt das amerikanische Militär, das gewöhnlich nicht nach dem Wohle der Menschheit als Ganzes strebt, den Vorläufer des heutigen Internets. Bald darauf erhalten auch Universitäten Zugang zum Netz und tragen einen beträchtlichen Teil zu dessen Weiterentwicklung bei. Spätestens ab den 80er Jahren dominieren die akademischen Nutzer das Netz und mit ihnen die Idee von freiem Zugang zu Information und Wissen. Insbesondere die Free Software Foundation um Gründer Richard Stallman setzt sich bis heute vehement gegen jegliche Zugangsbeschränkungen zu  Software ein. Sie begründet dies einerseits damit, dass freier Informationsfluss einer Gesellschaft dient, während Copyrights vor allem wirtschaftliche Interessen Einzelner schützen. Anderseits wahrt nur quelloffene Software die digitale Selbstbestimmung, da sie transparent und somit vertrauenswürdig ist. In Deutschland gründet sich etwa zur gleichen Zeit der Chaos Computer Club, der auch ein Menschenrecht auf ungehinderte Kommunikation und Informationsfreiheit einfordert. Die Werte der Internetpioniere dies- wie jenseits des Atlantiks sind dabei durchaus humanistisch zu verstehen. Zum einen verspricht freie Software digitale Selbstbestimmung, die eine notwendige Voraussetzung für freie Entfaltung im digitalen Raum darstellt. Zum anderen demokratisiert sie den Zugang zu Bildung, da sie auch kostenfrei ist. Während das humanistische Bildungsideal zu Humboldts Zeiten nur einer Elite vorbehalten war, steht die Tür zum Wissen der Welt nun offen. Seit im Januar 2001 die Wikipedia online geht, scheint sich diese Vision immer weiter zu verwirklichen.  

Doch spulen wir in unserer kurzen Geschichte des World Wide Web doch mal bis heute vor. Wie steht es um den humanistischen Gedanken in der heutigen Digitalsphäre? Das Versprechen, Zugangshürden abzubauen, ist eingelöst worden: fast jeder ist online. Doch was ist aus Bildungsideal und digitaler Selbstbestimmung geworden?  

Das Internet ist bei Weitem nicht so divers, wie wir auf den ersten Blick vermuten. Eine Handvoll Konzerne kontrolliert einen beträchtlichen Teil des gesamten Datenverkehrs im Netz und greift dabei nach Belieben Daten ab. Doch selbst in den schier unendlichen Nischen, die die Digitalkonzerne nicht direkt unter Kontrolle haben, sind ihre Tracker stets präsent – man denke nur an Facebooks Like-Button, der auch auf jeglicher Drittseite Daten an Facebook sendet. Ziel des Datensammelns ist es letztlich, zielgenaue, personalisierte Werbung anzuzeigen, was für die meisten Websites – klein wie groß – die wichtigste Einnahmequelle ist. Nicht das eigentliche Produkt ist die Dienstleistung einer Website, sondern das Generieren von Werbezielen in Form von Usern. Der Nutzer ist nicht Kunde, sondern Produkt. Um möglichst viel von der Ware „Page Impression“ herzustellen, setzen Google und Facebook Algorithmen ein, die die Bildschirmzeit der User maximieren. Dies führt dazu, dass leicht konsumierbarer Content gezeigt wird. Weil Halbwahrheiten mit reißerischen Titeln öfter geklickt werden als profund recherchierter Journalismus, spült der Algorithmus sie in unsere Feeds[iii]. Auch in der automatischen Wiedergabefunktion von YouTube wird bevorzugt, wer am lautesten schreit. Der Konsument wird zu einem Schäfchen in der Herde eines Datenmultis, bekommt häppchenweise leicht verdauliche Inhalte serviert und lässt sich seine Daten abmelken.  

Dem humanistischen Geist widerspricht diese Entwicklung in zwei Punkten: Einerseits läuft die Oberflächlichkeit der Inhalte dem Bildungsideal zuwider, da eine Persönlichkeitsbildung tiefe und vor allem aktive Auseinandersetzung mit der Materie erfordert. Andererseits – und das ist noch fundamentaler – unterminiert die Lenkung der Inhalte, die wir zu sehen bekommen, eine zentrale Voraussetzung des Humanismus: Selbstbestimmung. Wir sind auf dem Weg zurück in die selbst verschuldete Unmündigkeit!

Kant definiert in „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?”[iv] Unmündigkeit als „Unfähigkeit sich seines Verstandes ohne Leitung eines Anderen zu bedienen”. Die Unmündigkeit ist demnach selbst verschuldet, wenn man zwar Verstand hat, diesen aber aus Feigheit oder Faulheit nicht benutzt. Während die Meinungsfreiheit garantiert, dass es keines Mutes mehr bedarf, selbst zu denken, bleibt die Geißel der Faulheit unverändert bestehen. Kant hält bereits fest: „Es ist so bequem, unmündig zu sein”. Zynischerweise scheint das das Motto unserer Zeit zu sein, in der wir uns lauschig in unsere Filterblasen einkuscheln und Amazon nach unseren nächsten Konsumwünschen fragen. Je detaillierter ein Algorithmus seinen Nutzer kennt, umso besser sind die Ergebnisse für den Nutzer. Der Wechsel zur Konkurrenz geht somit mit Einbußen an Ergebnisqualität einher und die Abhängigkeit des Nutzers verstärkt sich weiter. Dadurch wiederum erhält der Algorithmus mehr Daten und der circulus vitiosus schließt sich.

Sind wir der Datenwirtschaft ausgeliefert? Müssen wir für all die Annehmlichkeiten, die sie uns bietet, unsere Selbstbestimmung aufgeben? Nein! Wir müssen nur unsere Bequemlichkeit überwinden. Zu nahezu jeder grundlegenden Software, angefangen bei Betriebssystemen über Webbrowser und Suchmaschinen bis hin zu sozialen Netzwerken und Messengern, gibt es quelloffene Alternativen, die noch heute den humanistischen Hackergeist der Anfangsjahre des Internets leben. Jüngst haben sich zudem Projekte wie „Blokada” oder das „e-project” etabliert, die Datenschutz auch auf dem Smartphone versprechen. Die Technik steht bereit, wir müssen nur unsere Bequemlichkeit überwinden, um unsere digitale Souveränität zurückzuerlangen. Für die Aufklärung 2.0 ist nicht einmal eine blutige Revolution nötig, sondern nur ein paar Klicks!


[i]J.W. Goethe: Das Göttliche

[ii]S. Pinker: Enlightenment Now: The Case for Reason, Science, Humanism, and Progress. Penguin 2018

[iii]https://www.nytimes.com/2018/03/10/opinion/sunday/youtube-politics-radical.html

[iv]I. Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, Berlinische Monatsschrift, 1784, 2, S. 481–494

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert