Das Unbehagen in der Geschichte

Der Mensch ist ein leidiges Wesen. Ein homo patiens, wenn man so will. Die umfassende Gegenwärtigkeit des Leids drückt sich noch in den kleinsten Momenten der Lächerlichkeit aus: der grelle Schmerz des gestoßenen Fußes, die Absage des Freundes zur gemeinsamen wöchentlichen Qualvorlesung oder mangelnde Koffeinintensität im Blutspiegel bei gleichzeitig hohem Ethanolgehalt an einem Sonntagmorgen. Eine Liste über leidvollen Situation kann der privilegierte europäische Kosmopolit des 21. Jahrhunderts innerhalb weniger Minuten auf die Länge der Marx-Engels-Gesamtausgaben strecken, sofern ihn jemand fragen würde.

Der Begriff Leid fällt etymologisch mit Leidenschaft, Erlebnis und Affekt im griechischen Wort pathos zusammen. Die Dialektik im klassischen Sinne springt den Philologen respektive Philosophen förmlich an: Der Verwendung des Wortes pathos haftet neben Schmerzlichkeit auch ein Schimmer der Hoffnung, ein Gedanke des kreativen Umgangs mit Leid an. Leidenschaftlich, voller Euphorie, Begeisterung und Enthusiasmus gibt sich der Mensch einer Beschäftigung hin. Man könnte, um mit Freud zu sprechen, nun die Verbindung zwischen Leid und Leidenschaft pessimistisch verzerren: Unterdrückte Triebe – etwa durch ein gesellschaftliches Stigma von Homosexualität oder übriger sexueller Präferenz – führen durch Sublimierung [1] zu ästhetischen, literarischen, künstlerischen Leidenschaften. In im weitesten Sinne künstlerischen Objekten drücken sich demnach fehlende, triebartige Erfüllungen aus. Pessimistisch und ambivalent vermittelt sich durch Leid die Chance, aus dem Leiden eine diametrale Kraft auf etwas anderes zu richten [2].

Man könnte die Dialektik des Begriffs jedoch auch optimistischer mit einer Philosophie der Geschichte verbinden: eine Philosophie des Leidens und der Flucht – dem Sprung aus dem unaufhaltsamen Gang der Geschichte. In Walter Benjamins einzigartiger Geschichtsphilosophie fällt Leiden und Erlösung auf emanzipative Art und Weise zusammen. In seinen Geschichtsphilosophischen Thesen treffen sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Das persönliche und geschichtliche Leid vergangener Menschengeschlechter und die Hoffnung, dass diesem perennierenden Leid wohl einmal zu entkommen sei, vergegenständlichen sich im Moment der „schwache[n] messianische[n] Kraft“ [3]. Messianismus drückt bei Benjamin die Hoffnung auf die jedem Moment innewohnende mögliche Erlösung aus der leidigen Kontinuität der Geschichte aus.

Wie kein anderer seiner Texte eröffnen Benjamins  Überlegungen zum Begriff der Geschichte einen weiten Interpretationsraum. Vereinfachend gesagt ist es das Leid in der Geschichte, das Benjamin in der Vertröstung durch Fortschritt nicht verkannt sehen will. Dabei macht er zwar Anleihen im marxistischen Unterdrückungsnarrativ, verkauft es aber nicht an die deterministische Erlösung eines orthodoxen Klassenkampfes. Die bessere Zukunft werde sich nicht objektiv, also ohne aktives Eingreifen der Menschen, vollziehen. Die Unterdrückung und die Chance zur Befreiung, die bei Marx angelegt ist, greift Benjamin auf, widerspricht dem quasi natürlichen Eintreten der Befreiung zugleich. Die Geschichte sei keine Ansammlung an notwendig aufeinander folgenden Ereignissen à la Historismus oder eine leer geformte Zeit voller Begebenheiten, die unverbunden aufeinander folgen. Zwischen der Geschichte der verpassten Chancen, der gescheiterten Revolutionen, des individuell und kollektiv Unterdrückten – kurzum: der Geschichte des Leidens – besteht ein dialektisches Verhältnis zur Erlösung von diesem Leiden. Das Moment dieser Verbindung tritt in Benjamins IX. These im Motiv des Angelus Novus (Paul Klee) auf:

„Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufe vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“[4]

Benjamin geht es also nicht um die eingangs exemplifizierten individuell-verantwortbaren, letztlich trivialen, Ärgernisse. Vielmehr vertritt er den Anspruch, die zerrüttete Geschichte – den Trümmerhaufen – statt in eine hegemoniale Erzählung eines Fortschritts, in ein dialektisches Verhältnis von Vergangenem und Zukünftigen einzuspannen. Dialektisch insofern, als  die geschichtliche Nichteinheit (Stagnation oder gar Regression, Leid) und die historische Einheit (Fortschritt, Glück) zusammen eine Identität bilden. Das Allgemeine, um mit Hegel zu sprechen, kann sich nur durch das Besondere, durch den ewigen homo patiens, verwirklichen. Bei Benjamin wäre die messianisch-hoffnungsvolle Erlösungsphantasie das Allgemeine und das Besondere gerade sein faktisches Gegenteil: der unterdrückte, leidende Mensch. Man könnte wohl vereinfachend von einer Absage an die traditionelle Geschichtsschreibung sprechen, die auf dem Rücken der beherrschten Menschengeschlechter eine Weltkonstruktion euphemisiert. Doch dürfen diese Gedanken nicht im Leeren verharren. Er fordert vielmehr dazu auf, sich im Eingedenken des Vergangenen Leids die Zukunft des Geschichtlichen im Augenblick des Gegenwärtigen einzuleiten.

Über den Begriff der Geschichte sollte Benjamins letzter Text sein. Die Thesen lassen sich auf die Zeit zwischen 1939 und 1940 datieren. Die gescheiterte Flucht aus Frankreich vor der Verfolgung der Nationalsozialisten zwang Benjamin im September 1940  Selbstmord zu begehen. Berichten zufolge sollen die Grenzbeamten an der spanisch-französischen Grenze, die tags zuvor seiner Gruppe den Grenzübertritt verwehrten, so beeindruckt von der Tat Benjamins (Selbstmord aus schierer Verzweiflung) gewesen sein, dass sie dem Rest der Gruppe einen Tag darauf die Flucht vor den Verfolgern nach Spanien ermöglichten. Auf Umwegen gelangte das Manuskript zunächst an Hannah Arendt, die es dann – letztlich widerwillig – an die Köpfe der Frankfurter Schule, Adorno und Horkheimer, mittlerweile im amerikanischen Exil, weiterleitete. Allein die Geschichte dieses Textes hätte das Potential, eine Chronik des Leidens zu schreiben.

Es mag perfide sein, Benjamins Gedanken mit seiner eigenen Biographie zu kontrastieren. Doch in seinem Entschluss, Selbstmord zu begehen – er litt ohnehin seit seiner Kindheit an einem Herzleiden, war schlecht zu Fuß, der erneute Anstieg über einen unbefestigten Pfad über die Grenze war ihm unmöglich – tritt er als homo patiens seine Hoffnung auf Erlösung ab. Ob ihm die geplante Emigration in die USA geglückt wäre, kann im Nachhinein sowieso nicht entschieden werden. Dabei erfährt Benjamin die schicksalhafte Tragik seines eigenen Begriffs der Geschichte: sein individuelles Leid (Emigration, chronische finanzielle Probleme, Verfolgung durch die Gestapo, Trennung von seinem familiären und freundschaftlichen Umfeld) fügt sich in eine Kette aus unzählbaren Einzelschicksalen. Wo die deutsche Nachkriegsgesellschaft im aufkommenden Wirtschaftswunder, in Abkehr der Entnazifizierungen, im Vergessen an den so plötzlich verschwundenen jüdischen Nachbarn einen Fortschritt sieht, da sieht Benjamins Engel der Geschichte die schiere Sammlung tragischer Menschenschicksale.

Das Plädoyer, dass das Einzelschicksal nicht dem Ganzen unterjocht werde, hat die deutsche Nachkriegsgeschichte mittlerweile ernst genommen. Was bleibt, um  in der Zukunft den Trümmerhaufen nicht noch weiter mit unsäglichem Leid aufzuschütten? Die Hoffnung auf das Paradies, von dem der Engel  herkommt, dessen Immanenz es verbietet die Leiden im Nachhinein zu erlösen, bleibt selbst für Benjamin angesichts seiner bevorstehenden Selbsttötung als Mahnung und Versprechen bestehen.

„Uns ist wie jedem Geschlecht, das vor uns war, eine schwache messianische Kraft mitgegeben, an welche die Vergangenheit Anspruch hat.“[5]

Bild gefunden bei: Ceasefiremagazine.

 

[1] Laplanche, Jean; Pontalis, Jean-Bertrand (1972): Das Vokabular der Psychoanalyse. Frankfurt am Main: Suhrkamp: „Von Freud postulierter Vorgang zur Erklärung derjenigen menschlichen Handlungen, die scheinbar ohne Beziehung zur Sexualität sind, deren treibende Kraft aber der Sexualtrieb ist. Als Sublimierungen hat Freud hauptsächlich die künstlerische Betätigung und die intellektuelle Arbeit beschrieben.“, S. 478.

[2] Freud, Sigmund (2012): Das Unbehagen in der Kultur. 2., durchgesehene Auflage. Stuttgart: Reclam, S. 45.

[3] Benjamin, Walter (2010): Geschichtsphilosophische Reflexionen von Walter Benjamin. Posthume Abschrift. In: Gérard Raulet (Hg.): Walter Benjamin. Über den Begriff der Geschichte. Berlin: Suhrkamp, S. 94.

[4] Benjamin 2010, S. 98.

[5] Benjamin 2010, S. 94.

Ein Kommentar zu „Das Unbehagen in der Geschichte

  1. meiner einschätzung nach kommt in diesem artikel die spezifik der entstehungsgeschichte der geschichtsthesen etwas zu kurz. ein blick in die kritische gesamtausgabe verrät, dass sich die arbeit an jenen über mehr als 10 jahre streckte und benjamin diese in den unterschiedlichsten fassungen aufbereitete. zudem sollte an dieser stelle auch noch darauf hingewiesen werden, vor welchem zeitgeschichtlichen hintergrund sich diese thesen versammeln. aus den briefen und unterschiedlichen fassungen, liest sich gerade darin gerade eine pessimistische absage benjamins an die europäische linke, angesichts des hitler-stalin pakts ab.
    darüber hinaus ist mir nicht ganz klar, worauf diese biographiseriung benjamins tod in zusammenhang mit seinen geschichtsthesen abzielt. stattdessen wäre es interessant zu befragen, inwieweit benjamin bedenkt das leid zu überwinden oder davor resigniert, gerade mit blick auf die dialektik im stillstand im bild der notbremse.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert