A. N. Whitehead hat einmal geschrieben, Philosophie und Lyrik ähnelten einander in der Aussageabsicht, treffen ihre Aussagen aber auf unterschiedliche Weise (Denkweisen, 9. Vorlesung: Das Ziel der Philosophie). Ihr gemeinsames Ziel ist es, dem menschlichen Fortschritt, der „Zivilisation“, zu dienen. Die Lyrik verfolgt diese Absicht durch das Medium des Metrums und der gebundenen Sprache, die Philosophie (wie Whitehead sie versteht) hingegen in mathematisch-logischer Präzision. Ich möchte unterstellen, dass unterschiedliche Herangehensweisen auch verschiedenartige Perspektiven eröffnen. Was es bedeutet Mensch zu sein (und immer mehr zu werden) eröffnet sich in seinem vollen Umfang eher demjenigen, dem mehrere Wege offen stehen, dieses „Problem“ zu betrachten. Und natürlich befruchten sich die unterschiedlichen Perspektiven gegenseitig. Sie sind dabei wie Freunde, die im Blick auf ein Drittes ihre Erfahrungen bereichern indem sie diese miteinander austauschen und einander helfen ein volleres und reicheres Bild von der Welt zu bekommen – und je reicher ein solches inneres Gespräch ausfällt, desto besser. Mit Heidegger könnte man davon sprechen, dass im Kunstwerk, dem Dritten im Bunde, die Wahrheit ins Werk gesetzt wird. Mit anderen Worten: im Kunstwerk erkennen wir klarer, wie die Dinge wirklich sind.
Abseits des Paradigmas der geschriebenen Sprache ist die bildende Kunst ein Ort der Beschäftigung mit der menschlichen Welt. Hierbei gibt es nun zwei Herangehensweisen, die es ermöglichen mit, einem Werk der Kunst in Kontakt zu kommen, in eine Auseinandersetzung, in die auch der „Philosoph in uns“ sich einbringen kann.
Eine Herangehensweise wäre, zu fragen, was uns das Sujet und der Stil, also Inhalt und Form, über die Zeit der Entstehung sagen können und darüber hinaus, inwiefern sich diese Zeit von der unsrigen unterscheidet. Hierbei wäre besonders der Ideengeschichtler gefragt, der in so eine Überlegung sein Wissen um die geistige Situation einer Zeit einspeisen kann. Problematisch dabei ist, dass es unmöglich ist, den Blick, den die Menschen einer vergangenen Epoche auf die Welt hatten, völlig zu rekonstruieren. Ein solcher erklärender Zugang hat darin seine Grenzen.
Die andere Herangehensweise nähert sich eher auf unmittelbar-affektive Weise einem Werk der Kunst. Sie fragt nicht nach dessen Kontext, in ihr lassen wir uns unmittelbar betreffen von einem Werk, erleben es. Die Stärke einer solchen Herangehensweise ist, dass sie uns ermöglicht, unsere emotionale Seite besser kennenzulernen. Für ein historisches Bewusstsein ist sie allerdings nicht besonders hilfreich, da sie sich eben darauf beschränkt, sich mit meinen ganz persönlichen und privaten Gefühlsregungen oder Assoziationen zu befassen.
Wenn wir beispielsweise in einem Kabinett der Alten Pinakothek einem holländischen Gemälde mit dem Thema „Kneipenschlägerei“ (A. Brouwer, entstanden zw. 1625 u. 38) begegnen, können wir uns mit der einen Herangehensweise fragen, was einen wohlhabenden, vermutlich städtischen Bürger der Niederlande im 17. Jh. dazu bewog, sich ein paar sich keilende Bauern übers Sofa zu hängen und überlegen, was uns das z.B. in kulturphilosophischer Perspektive sagen könnte. Die andere Herangehensweise ist, zu beobachten, wie das Bild auf uns wirkt und zu sehen, ob sich etwa irgendwelche rohen Instinkte bei uns melden, aufgrund derer wir an liebsten sofort dem nächstbesten Museumswärter vors Knie treten würden…
Was wir auf jeden Fall und auf jede der beiden Weisen kennen lernen können, sind der Reichtum, die Vielgestaltigkeit und manchmal die Befremdlichkeit menschlichen Lebens. Bilder können nicht nur Philosophie veranschaulichen (wie z.B. Rubens Petersburger Ecce Homo, der beispielhaft für Hegels Konzept von Offenbarungsreligion einsteht), sondern auch umgekehrt – was war zuerst: Holbeins Gesandte oder Zizeks Parallaxe…? Ich glaube, dass unser philosophisches Nachdenken von der Auseinandersetzung mit Kunstwerken nur profitieren kann.
(Bildquelle: Alte Pinakothek, München: https://www.sammlung.pinakothek.de/de/artist/adriaen-brouwer/keilerei-zwischen-fuenf-bauern, abgerufen am 14.07.2018)
Toller Text. Ich denke, dass man beides beim Philosophieren beachten sollte. Sowohl Lyrik, als auch Philosophie beschäftigen sich mit den gleichen Themenbereichen und gute Lyrik hat auch meistens eine politische Aussage. Allein Verpackung und Schwerpunkt des vermittelten unterscheiden sich. Sich nur auf eine Art der Herangehensweise zu verlassen wäre aber grundsätzlich falsch.
Interessante Sichtweise. Ich denke, dass das Philosophieren und das Dichten – oder allgemeiner: das Künstlerisch-Tätig-Sein – viele Schnittstellen haben. In beiden Fällen handelt es sich schon um eine grundsätzliche Reflexion darüber, was es heißt, Mensch zu sein. Wenn ich dann aber konkreter nachdenke, sind es oft nicht die gleichen Themenbereiche. In der Philosophie argumentiere ich. Das kann ich in der Dichtung nicht. Deswegen glaube ich auch nicht, dass gute Lyrik eine politische Aussage hat. Im Gegenteil. Wie sehr man, sagen wir, Rilke zerstören würde, wenn man seine Gedichte als eine politische Forderung liest!