Niemand muss wissen, was der Sinn des Lebens ist. Spezialisten befassen sich damit. Ob sie Erfolg haben, ist unwichtig. Die Angelegenheit wird bearbeitet – das Individuum kann sich sorglos realen Problemen widmen. Wirklich?
Es war einmal eine Gruppe Rollkragenpullover tragender Philosophiestudenten, die hatte bis weit nach Mitternacht auf irgendeinem WG-Balkon herumgesessen. Sie hatten die Nachbarn gestört, über Memes gekichert und bei Wein und Zigaretten laut über den Sinn des Lebens nachgedacht. Ergebnis des Abends: Rotwein weg, Tabak weg, Kater. Der Sinn des Lebens war unbekannt geblieben. Ausgangspunkt der Szene: ein uraltes Klischee. Die Geschichte selbst: hingerotzt wie ein Trump-Tweet, bedeutungslos wie das Dasein, so unpassend wie die Frage dem Sinn des Lebens auf einem SPD-Parteitag.
Haben wir eine Alternative?
Stellen wir uns eine Welt vor, in der alle jederzeit genau angeben können, warum und wozu sie etwas tun, glauben oder wollen. Eine Welt, in der sich niemand fragen muss: Warum bin ich mit diesen Leuten, die ich nur so halb mag, in dieser Bar, die mir nur so halb gefällt, in einer Stadt, wo ich eigentlich nie hinwollte? Und warum spreche ich hier über Sachen, von denen ich eigentlich keine Ahnung habe? Eine Welt, in der sich niemand sagt: Ich erfülle meine Pflicht, weil ich es muss, weil ich nur so überleben kann, und weil das Überleben besser ist als das Gegenteil. Eine Welt, in der man sich jederzeit sagen kann: Was ich gerade tue, so lächerlich es für sich genommen auch sein mag, das ist ein kleiner Schritt hin zu etwas, dass für sich genommen sinnhaft ist, das sogar den Weg dorthin mit Sinn erfüllt. Eine Welt ohne Orientierungslosigkeit, ohne wechselseitiges Unverständnis, ohne das Gefühl, gegen den eigenen Willen Teil eines Wirklichkeit gewordenen Wahnsinns geworden zu sein. Eine Welt, in der immer alles auf der Hand liegt. Wem das nicht gerade vertraut vorkommt, muss ich leider sagen: Dein Leben ist vermutlich nicht besonders sinnerfüllt.
Struggle for sense
Was machen wir nun daraus? Der Kampf um den Sinn wird seit langer Zeit und mit harten Bandagen geführt. Frühe geschlossene Gesellschaften waren noch in der Lage, Sinn etwa religiös codiert in das Individuum herunterzuvermitteln. Spätere, republikanischer organisierte Gemeinschaften haben sich diskursiv und gemeinsam auf Sinnsuche begeben. Vielleicht waren ihre Ergebnisse für sie nicht frustrierend? Der Sinn verlagerte sich aus einer jenseitigen in eine reale Zukunft: Aus der Hoffnung auf göttliche Erlösung wurde der Wunsch, nachfolgenden Generation ein besseres Leben zu ermöglichen. Die Antwort auf die Sinnfrage sind nun Familie und Kinder. Sind dann die größten Sinnkiller kinderlose Singlehaushalte?
Orientierung, Sinn und Amen
Die moderne Welt kennt mehr als eine Religion. Ihre Systeme geben uns widersprüchliche Informationen. Der Diskurs ist fragmentiert. Das in seinen Antworten auf sich zurückgeworfene Individuum muss aus dem vorhandenen Angebot auswählen, muss devot annehmen, remixen, neu formulieren – oder die Sinnfrage ganz zurückweisen. „Der Übermensch ist der Sinn der Erde. Euer Wille sage: der Übermensch sei der Sinn der Erde“, sagt Zarathustra. Dieses sei kennzeichnet den Sinn als autoritäre Setzung: Den Sinn sollst du setzen, nicht erkennen. Es braucht keine Erleuchtung, es braucht keinen Diskurs: es braucht nur den Willen zum Sinn – und genug Disziplin, um das Gesetzte dann auch durchzuhalten.
Warum können wir den Sinn nicht leben?
Hingeschrieben ist er leicht, so ein Sinn. Ihn zu leben, ist schwer. Begründen ist schon herausfordernd genug, weil er wie die meisten abstrakten Begriffe an irgendeiner Instanz festgemacht werden muss: Kindern, Gott, der Nation. Bezweifelt man den Wert dieser Instanz, gerät das ganze Konstrukt unter Druck. Nur Wenige wären imstande, auf Dauer zu antworten: Es ist so, weil ich es sage. Leben wir also alle in Sinnlosigkeit? Und würde sich damit wirklich leben lassen? Fast ist man versucht, ein transzendentales Argument zu konstruieren: Die Tatsache, dass der allgemein Massensuizid bislang ausgeblieben ist, zeigt doch, dass zumindest die Mehrheit der Menschen ihr Leben nicht dauerhaft als sinnlos wahrnehmen kann.
Vom Sinn des Lebens zum Erzeugen von Traffic
Zwischenfazit: Wir haben uns nicht auf einen Lebenssinn geeinigt, vielleicht nicht einmal wirklich darüber verständigen können. Wir können jetzt mit Camus dagegen rebellieren – oder uns mit Thomas Nagel wünschen, die ganze Sache mit Ironie anzugehen. Wir können versuchen, die Frage auf Dauer zurückzuweisen. Oder wir lagern das Ganze aus und gründen eine Expertenkommission: Wo wir uns als Gesamtgesellschaft nicht einigen können, können wir doch zumindest Spezialisten damit beauftragen, es an unserer Stelle zu versuchen. In streng abgesonderten Reservaten werden die naturwüchsigen Fragen konserviert und mit bürokratischer Präzision weiterbearbeitet. Ab und zu wirft das Individuum einen distanziert-interessierten Blick auf die Zwischenergebnisse. Funktionale Differenzierung ist eingetreten. Die Menschheit hat allgemein unbeantwortbare Fragen in spezifische Funktionssysteme ausgelagert. Professionelle Beobachter beobachten, was ein Funktionssystem tut, und tragen ihre Beobachtungen in andere Funktionssysteme hinein. Der Vorgang ist sauber, präzise und ordentlich. Um sein Ziel zu erreichen, muss er nur noch richtig funktionieren: Ergebnisse müssen erzielt und sachgerecht an den Endverbraucher kommuniziert werden. Eine sinnerfüllte Gesellschaft läuft einfach besser: Kooperationschancen steigen, Transaktionskosten fallen; gelöste Sinnfragen geben Ressourcen frei, um reale Probleme anzugehen. Ist das auf dem Papier eine gute Antwort? Es ist zumindest die, die wir real längst gegeben haben. So viel kann ich mit Sicherheit sagen: Wo wir den Sinn des Lebens nicht beschreiben können, können wir doch zumindest Traffic erzeugen.
Camus hat nicht nur rebelliert. In seinem Mythos des Sisyphos beschreibt er einen Menschen, der die Absurdität des Lebens akzeptiert und dabei tätig bleibt, auch wenn er den Sinn seiner Aufgabe nicht versteht. Ich empfinde diese Auffassung des tragischen Mythos als tröstlich. „Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“