Auf einmal werden wir in die Situation des Beobachtens geführt. Das Sujet dieser Bilder macht den Anschein, es beziehe sich durch den Blick der Figuren unmittelbar auf uns als Betrachter, reißt uns in ein Rollenspiel zwischen Beobachten und Beobachtet-Werden. Auf einmal sind wir in die Lage gebracht, zu erfühlen, welche Macht von diesem Standpunkt ausgeht – und komplementär dazu: welch existentielle Verletzlichkeit, welche Schutzlosigkeit den Beobachteten beschieden ist – ist es das, liegt hierin die Sogkraft dieser Kunst?
Das erste Mal wurde ich auf Tesfayes Bilder aufmerksam, als ich Anfang 2019 eine Ausstellung in der Stuttgarter Galerie Schacher besuchte. Während die im Zeichen eines ganz anderen Künstlers stand, faszinierten mich im Hintergrund in einer Ecke der Galerie, in der Kunstkataloge und dergleichen zum Verkauf angeboten waren, ein paar Gemälde, die nur unscheinbar an die Wand gelehnt standen; und doch alles andere als unscheinbar: Ich finde in ihnen eine unbändige Wucht von Ausdruckskraft, die ich nach langem Staunen zurückzuführen suche auf: die Farbe – die Ausbalanciertheit der Komposition – den ambigen Grad zwischen Konkretem und Abstraktwerdung – eine mysteriöse Schwerelosigkeit von Körpern, die im Raum verloren und gefangen zugleich, ihrer Identität, ihrer Verortung in der Welt zu hadern scheinen. Und inmitten dieser emotionalen Wucht, die aus den Werken zu mir spricht, eine zeichnerisch und anatomisch gekonnte Darstellung sich verrenkender Körper, perspektivisch verschränkt, die in nahezu grotesker Deformiertheit auf ihr eigenes Dasein zurückgeworfen scheinen. Ich wollte mehr über den Künstler wissen und entdeckte in einem der ausliegenden Kataloge[1] eine Vielzahl seiner Werke, darunter jene Serie von Gemälden, entstanden zwischen 2014 und 2015, die mich seither unwiederbringlich in ihrem Bann hält: Die Beobachteten.
Nach seinem Umzug nach Deutschland sensibilisiert durch unzählige Polizeikontrollen, sah sich der gebürtige Äthiopier an Stuttgarter Bahnhöfen, von Überwachungskameras umgeben. Durch diese etwa an Bahnhöfen und öffentlichen Plätzen allgegenwärtigen Überwachungsstrukturen fühlte er sich fortwährend beobachtet. In dieser Gemälde-Serie adressiert er die dahinter steckende Mentalität des Misstrauens, der notorischen Verdächtigung eines jeden einzelnen, von der Integrität des Menschen ausgehend.[2] Tesfaye Urgessa schreibt, er habe dem Thema durch die frontale Ansicht, die Haltung der Figuren und ihre durchdringlichen Augen in den ersten drei Gemälden der Serie auch eine andere, spielerische Dimension geben wollen. Sie sollen zeigen, dass dieses Verhältnis – Beobachten und Beobachtet-Werden – sich auch umkehren lasse und das Publikum so ebenfalls der Position desjenigen ausgesetzt werde, der beobachtet wird.[3]
Die Gemälde der Serie gewähren uns im allegorischen Spiel der Optik – wie durch eine Überwachungskamera – einen Blick auf die nackte Verletzbarkeit ihrer Figuren in einer Situation komplementärer Machtverhältnisse. Zu mir schrie daraus: etwas wie eine Objektifizierung des dargestellten Subjekts, durch die abgerichtet, es im Angesicht der obskuren Macht um seine Freiheit und Autonomie fürchten muss. Zum anderen scheint mir, werden wir zurückgeworfen auf unsere eigene Existenz, unser unstetes Treiben in der Welt, das von unzähligen Sensoren umgeben und an Kameras vorüberziehend seine Verletzlichkeit offenbart; in Die Beobachteten finden wir uns beim unermüdlichen Versuch der Orientierung in einem epistemischen Gefälle wieder, das wir entweder wissend beherrschen oder unwissend bewohnen. Der Künstler schreibt: „Da das Bewusstsein der Mehrheit der Menschen mit der Geschwindigkeit des technologischen Fortschritts nicht mithalten kann, fällt es leichter, sie zu kontrollieren.“ Der Einfluss solcher Überwachung impliziere, dass in den Augen der Elite die Mehrheit ihr zwar untergeordnet, jedoch gefährlich sei, weshalb sie überwacht werden müsse. Angesichts des öffentlichen Bewusstseins über den Missbrauch technologischer Möglichkeiten, meint er, sei es absehbar, dass „ein Blick hinter die Bühne“ wenig Erfreuliches offenbare.[4]
Gerade weil dieser Blick uns weitestgehend verwehrt bleibt, und nur ab und zu ein Spalt sich auftut, um Licht in die obskuren Geschehnisse hinter der Bühne zu streuen, stehen wir – sofern wir uns nicht vollends in die investigative Erforschung dieser digitalen Hinterwelt stürzen – da in einem Zustand größter Unwissenheit über Ausmaß und Endzweck der Überwachung, die sich über und zwischen uns erstreckt. Denn gleichzeitig etabliert sich jene Technik, die ihren Umfang ermöglicht, immer schneller in den Breiten unserer Gesellschaft. Die Implikationen dessen, was wir „Fortschritt“ nennen, werden schwerer nachvollziehbar, sowie die Zeit, die uns bleibt, die obskuren Praktiken zu begreifen, sich gleichsam verkürzt.
Sogar wir als Nutzer*innen geben, nebst der fortwährend von unzähligen Konzernen erhobenen Nutzungs- und Verhaltensdaten, nicht nur Daten von uns an, sondern sortieren sie noch vor: Instagrammer schematisieren und subsumieren die Beiträge aus den Stories fein säuberlich und reihen sie, gar mit hübschen Icons versehen, für die Außendarstellung vor ihren Followern im Profil auf; oder sie speichern Beiträge für ihren eigenen Überblick kategorial ab. Überhaupt die Einsicht, dass diese Art der Profilierung ein aus der Kriminologie stammendes Artefakt ist[5], macht uns womöglich zu teilnehmenden Insassen eines reziprok gestützten Systems der Überwachung. David Lyon, Leiter des Surveillance Studies Centre an der Queen‘s University in Kanada spricht in diesem Zusammenhang von einer „Culture of Surveillance“.[6] Eine Tendenz – auch im unmittelbaren Alltag, in der Bahn etwa – scheint bei alledem bezeichnend: Leute schauen, wenn sie sich unbeobachtet fühlen, sie schauen weg, sobald ihr Schauen bemerkt, der Blick erwidert, ihr Beobachten ertappt ist. Das Beobachten, der Blick von außen schafft keine Verbindung, vielmehr: er grenzt ab, ja schafft Hierarchien. Das Ebenbürtige weicht dabei dem Fremden: ich und die anderen. Entsprechungen dieses Phänomens finden wir im Treiben des Social Web. Dennoch stellt sich die Frage: Wer ist die Bedrohung? Gibt es sie oder wird sie lediglich angenommen, als notorische Begründung und Legitimation der Überwachung? Die Frage, ob oder inwiefern Vertrauen und gegenseitige Zugewandtheit uns, durch diese gesellschaftlich prägenden Strukturen, im alltäglich Zwischenmenschlichen abhandenkommen, ist entscheidend. Tracken wir lieber Herzfrequenz, Schritte, und Schlaf, scannen wir lieber das Museum mit dem Smartphone ab, verlassen uns auf Bewegungs-Scores und künstliche Selbstkontrolle (statt unsere biologischen und zwischenmenschlichen Kapazitäten zu aktualisieren), orten wir lieber Verwandte und Freunde, und nehmen in voyeuristischer Manier, möglichst ungesehen an ihrem Alltag teil, statt in den ebenbürtigen Austausch zu treten? Werden wir weiterhin auf zwischenmenschliche Kapazitäten und körperliche Intuition vertrauen, selbst perzipieren können und den Moment in seiner Flüchtigkeit wagen?
So oder so: Überwachung ermöglicht Kontrolle, die ihre guten Seiten haben mag. Aber das in systematischer Überwachung grundsätzlich manifestierte Misstrauen – gegenüber jedem, gar gegen sich selbst – degradiert den Menschen zu einem Schatten seiner eigenen Möglichkeiten. Tesfaye Urgessa fragt zu Recht, ob unser natürliches Gewissen in Bezug auf Werte wie Vertrauen, Liebe und Freiheit dadurch verletzlich oder in der Folge des Missbrauchs durch digitale Technologien gar als wertlos angesehen werde. Für ihn liegt hier die entscheidende Frage.[7] In seiner Kunst interessiert ihn, wie er selbst sagt, vor allem die psychische Verfassung des Menschen und wie sie sich in Beziehung zu politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen herausbildet. Die Figuren sind für ihn daher das Wichtigste seiner Bilder: „Sie sind eine Art Sprache, ein Gedanke, verkörpert in menschlichem Fleisch. Aus diesem Grund bin ich auch an ihrer Nacktheit und Blöße interessiert. Auf gewisse Weise deckt sie einen Teil jener Realität auf, die wir oft hartnäckig, berechnend und künstlich verbergen. Ich verwende viel Mühe darauf, meine Figuren so lebendig wie möglich erscheinen zu lassen – nicht aber im Sinne einer perfekten Adaption ihrer Hülle, eher wie ein Heliumballon in menschlicher Form und entsprechender Farbe.“[8]
Die Beobachteten demonstrieren uns die Verletzlichkeit des Menschen, der er umso mehr preisgegeben ist, desto weniger menschliche Werte wie Vertrauen seinen Umgang im Miteinander bestimmen. In Tesfayes Gemälden erblicken wir jedoch nicht nur Kritik und die emotionale Resonanz des Künstlers auf menschliche Abgründe und Widrigkeiten; wir können darin auch, viel grundsätzlicher, das fragile Moment unserer Würde, das Mysterium menschlicher Integrität, über die Leinwand zucken sehen. Hier werden wir, mit diesen Machtverhältnissen konfrontiert, unausweichlich in die Situation gebracht, als Betrachter selbst über sie zu reflektieren und zu fühlen. – Viele Leute, bemerkte Tesfaye in unserem Gespräch, würden es geradezu als unangenehm empfinden, vor dem Bild Die Beobachteten 1 zu stehen; dies sei genau, was es auslöst: Wer die Gemälde der Beobachteten-Serie rezipiert, kann simultan zur Empfindung der Beobachter-Perspektive Teil an dem Gefühl haben, selbst beobachtet zu werden. Hier wird die Kunstbetrachtung zur Beobachtung, und unser Beobachten durch das Sujet des Kunstwerks, durch dessen Antlitz und Präsenz entgegnet; wir sind die Beobachteten. – Dabei müssen wir uns fragen: Was bedeutet es für das Menschliche, wenn ihm, einer Welt des Misstrauens ausgesetzt, per se das Stigma drohender Gefahr angedichtet wird? Konstruieren wir diese Welt nicht erst im Denken, im Handeln selbst, indem Misstrauen zu Misstrauen führt, der technologischen Architektur zugrundeliegenden Weltanschauungen qua Implementierung als eine Realität etabliert werden, und wir schlichtweg verlernen, auf das Symmetrisch-Zwischenmenschliche zu vertrauen, einander ebenbürtig zu begegnen? Mindert uns das Überwachen und Sich-Überwachen-Lassen noch in unserem eigenen Menschsein, in der Essenz unserer Würde? Wie lässt sich damit leben?
Die Antwort des Künstlers darauf mag im Bereich des Vieldeutigen liegen, das nirgends so trefflich beherbergt ist wie zwischen dem Künstler, seinem Sujet und zu guter Letzt der Resonanz der Betrachtenden. Diese Ambiguität spricht auch aus dem von Marko Schacher für sein Vorwort des Katalogs gewählten Titel: „Vertraute Fremdkörper“[9]. Sie spricht aus den radikal offengelegten Emotionen, und den ambivalenten Verstrickungen menschlicher Angelegenheiten, in ihrem Stolz und ihrer Verletzlichkeit, ihrer Nähe und Fremde, die Tesfaye in seinen Bildern thematisiert. Womöglich ist sie nicht zuletzt ein Zeichen der menschlichen Versehrtheit unserer Zeit.
Über den Künstler: Tesfaye Urgessa wurde 1983 in Addis Abeba, Äthiopien geboren. Dort schloss er ein Diplomstudium im Technischen Zeichnen und einen Bachelor in der Kunsterziehung ab. Bis 2009 assistierte er als Dozent und studierte daraufhin fünf Jahre an der Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart, wo er mitunter 2014 den Akademiepreis verliehen bekam. Inzwischen lebt er mit seiner Familie in Nürtingen und teilt sich das Atelier mit seiner Frau. Infolge zahlreicher Ausstellungen in Äthiopien und in Deutschland wurde auch der Direktor der Uffizien in Florenz auf ihn aufmerksam. So kam es, dass Urgessa Ende 2018 dort eine Solo-Ausstellung hatte: Inmitten der größten Künstler aus aller Welt fanden sich seine Gemälde in den Räumlichkeiten des Palazzo Pitti wieder.
[1] Urgessa, Tesfaye (2016): Fremdkörper, Hrsg.: Schacher – Raum für Kunst, Stuttgart (Der Katalog erschien im Rahmen einer gleichnamigen Ausstellung von 2016 und anlässlich der Art Karlsruhe 2017.)
[2] Das ging aus einem Gespräch hervor, das ich Anfang Juni mit dem Künstler führte.
[3] Ebd., S. 39
[4] Ebd.
[5] Vgl. Bernard, Andreas (2017): Komplizen des Erkennungsdienstes. Das Selbst in der digitalen Kultur, Frankfurt a. M.: Fischer.
[6] Vgl. Lyon, David (2018): The Culture of Surveillance, Cambridge: Polity Press
[7] Urgessa, Tesfaye (2016): Fremdkörper, Hrsg.: Schacher – Raum für Kunst, Stuttgart, S. 39
[8] Urgessa, Tesfaye, zitiert nach: Schacher, Marko (2016): Vertraute Fremdkörper, in: ebd., S. 5
[9] Vgl. Schacher, Marko (2016): Vertraute Fremdkörper, in: ebd., S. 5