Welche Rolle spielt Schönheit in einer modernen Gesellschaft? Wie verhalten sich traditionelle Kunstformen, Pop und Design zueinander? Wo sind sie zu lokalisieren? All das sind spannende Fragen, die der vorliegende Beitrag nicht beantworten kann. Stattdessen wird ausgiebig geträumt.
Selbstgewählter Publikationsdruck plus Prokrastination plus konkurrierenden Verpflichtungen sorgen manchmal dafür, dass philosophische Lagebesprechungen unter unschönem Zeitdruck angefertigt werden müssen. Schon wären wir über die erste Ambiguität gestolpert: Ist das Schöne gleichzusetzen mit dem Angenehmen? Eine schöne Musik, ein schönes Bild, eine schöne Stadt – das alles würden wir auch als angenehm bezeichnen. Doch was ist mit den Grenzbereichen der Kunst? Adornos Streichquartette? Extreme Vertreter moderner Kunst? Moderne Architektur? Schön vielleicht, aber angenehm beim besten willen nicht. Bevor wir uns weiter in den Orkus der Vieldeutigkeit hinabwagen, möchte ich jedoch noch eine kleine Anekdote teilen.
Letzte Nacht hatte ich einen Traum. Ich befand mich am Hamburger Hauptbahnhof. Die Printausgabe des vorliegen Blogs war überraschend an die Elbe verlegt worden. Zudem waren alle anderen Medienunternehmen sowie Druckereien, Zeitschriftenhändler und Kioske kürzlich an Facebook verkauft worden. Gleiches galt für die deutsche Bahn. Druckaufträge mussten seither in die DB-App eingegeben werden, über die man sich per Facebook-Profil anmeldete, und die Lieferung erfolgte auf Schienen. Aufgrund irgendeiner Regulierung oder vielleicht auch als Pendant für die DHL-Packstationen mussten die fertigen Druckerzeugnisse vom Besteller persönlich am Bahnhof abgeholt werden. Das war auch der Grund, warum ich jetzt zwischen einem schwitzenden Spiegelredakteur und einem dicken Feuilletonisten der ZEIT in der Schlange stand, die wie ich darauf warteten, endlich ihre Blätter nach Hause oder vielmehr zu den einzelnen Kiosken schleppen zu dürfen. Einige in der Schlange – vielleicht, um den Algorithmus gnädig zu stimmen? – trugen Jeanshemden im Facebookblau, die in entsprechendem Weiß mit dem Konterfei Mark Zuckerburgs bedruckt waren. Über dessen Stirn tanzten sternengleich ein paar jüngst geleakte Fetzen des Facebook-Algorithmus herum. Praktikanntinnen des ManagerMagazins wurden lautstark geheißen, sich möglichst sexy aufzuführen, um die Schaffner zu beeindrucken und früher dranzukommen. „Dann kommen wir alle schneller nach Hause“, rief der dicke Redakteur. Als der Funzel-Waggon dann endlich einfuhr (aus irgendeinem Grund gab es auch keine Loks mehr und die Wägen fuhren autonom) wachte ich auf.
Ich weiß nicht, was soll es bedeuten: Der Bedeutungsverlust der alten medialen ‚Lok‘ SPIEGEL? Die Gleichheit (nämlich gleiche Ratlosigkeit) traditioneller Medienunternehmen vor der Digitalisierung? Die deutsche Bahn als Chiffre für alles, was hierzulande nicht mehr funktioniert und eigentlich nur durch Verkauf an ausländische Großinvestoren gerettet werden kann? Der lange verschüttete Kindheitstraum, Schaffner zu werden? Die Angst vor dem Obsoletwerden der alten Männlichkeit? Einfach nur wegwollen, dabei Hamburg als Hafen zur Welt ein Sehnsuchtsort? Dem verständigen Publikum fallen sicher tiefsinnigere Interpretationen ein.
Schön war in der ganzen Geschichte vor allem das schräg einfallende Sonnenlicht, das durch eine neu eingesetzte Glaskuppel mit geätztem Facebook-Schriftzug den ganzen Bahnhof in ein weiches, ziemlich kitschiges Licht tauchte. Was ist schön am Abendlicht? Ist der Übergang oder Wandel, ist es der Zauber, der dem Ende innewohnt? Oder vielleicht die Gewissheit des baldigen Eintretens der Nacht, in der man die ganze Scheiße dann nicht mehr sehen muss? Möglicherweise auch nur die Knappheit des Phänomens: Es ist häufig Tag, es ist häufig Nacht, aber Sonnenauf- und untergang ist jeweils nur relativ kurz. Andererseits hagelt und stürmt es auch nicht besonders häufig, und trotzdem hält man das nicht für schön – oder? Ein richtiger Sturm, aus entsprechender Distanz genossen, kann durchaus eine wilde Schönheit entfalten. Und wer würde sich nicht manchmal wünschen, ein richtiger Jahrhundertsturm würde über gewisse Metropolen hinwegfegen…
Doch der metaphorische Grund und Boden, auf den das führt, ist vermint. Keine Stürme, keine Fluten, kein Ausmisten sollte man der der modernen Welt wünschen, so hässlich sie auch aus gewissen Blickwinkeln erscheinen mag. Unsere Augiasställe müssen schön mit dem Besen oder besser mit der Zahnbürste gereinigt werden, denn schon eine kleine Flut könnte reichen, notwendige Stützpfeiler wegzureißen, das Dach bricht ein, die Kühe fangen an zu schreien, und wie das so ist in der europäischen Geschichte, dann hat man den Weltkrieg oder die Revolution oder Schlimmeres. Stichwort Frankreich. Wenn sich selbst ein sonst eher absolutistisch auftretender Modeschöpfer den Gelbwesten anschließen, muss einiges im Argen liegen. Geht Klimaschutz nur, wenn man die sogenannten kleinen Leute mitnimmt? Aber wie soll das gehen ohne Diesel? Schwacher Scherz, großes Problem. Die Bahn könnte eine Lösung sein, aber das kommt irgendwie zu spät und ist ja auch an Facebook verkauft. Wie wäre es also mit Elon Musks Hyperloop? Oder, falls das technisch tatsächlich nicht machbar ist, steigt vielleicht steigt Amazon ins Personentransportgeschäft ein, und man kann sich bald als Paket aufgeben. Unsinn? Aber ja. Ich träume ja nur, wie Theresa May, von einem guten, einem sehr guten Deal für uns alle…
Zu guter Letzt noch ein Satz aus der seriösen Urfassung dieses Textes, die nicht ins Sein kommen konnte: „Schönheit, das ist eine Betäubung, die uns das Leben ertragen lässt. In klarer Sprache lässt sich davon nicht reden, weil in der Auflösung der Klarheit ihre ganze Gnade liegt.“ Mit Humor und funktionslosen Texten wie diesem könnte es ähnlich sein.