Über Taubheit

Was hat uns mehr bewegt – das erste oder das letzte Flüchtlingsboot, dessen Versinken wir auf irgendeinem Bildschirm verfolgt haben? Was hat uns mehr geschmerzt – als wir einsehen mussten, dass die Grausamkeit auf der Welt die Regel, nicht die Ausnahme ist, oder als wir zum ersten Mal einem Ertrinkenden, wenn auch nur virtuell, direkt in die Augen gesehen haben? Und was kann uns schließlich das Leid kümmern, das wir nicht sehen, und von dem wir doch wissen, dass es da ist, in zahlenmäßigen Dimensionen, für die unsere Intuition erwiesenermaßen versagt?

Man muss doch leben, so erwidert nicht nur der gesunde Menschenverstand. Kein Leid wird dadurch gemindert, dass ein Mensch am anderen Ende des Globus emotional adäquat darauf reagiert. Vor einiger Zeit sagte mir ein alter Philosoph, er verfolge die Nachrichten überhaupt nicht mehr. Es sei damit wie mit dem Essen: Man werde zu dem, was man konsumiere, und daher solle man möglichst nur aufnehmen, was einem wohltue. Auch, wenn man diese Intuition nicht in ihr solipsistisches Extrem treiben will, kann man doch zugeben: Niemand ist fähig, ein dem gesamten Leiden der Welt angemessenes Mitgefühl zu empfinden. Wer sich nicht aus dem Weltgeschehen ausschließen will, muss die Informationen zwar trotzdem aufnehmen. Doch der Preis dafür ist eine fortschreitender Verlust der Fähigkeit, etwas zu fühlen, das dem Gesehenen angemessen wäre.

Taubheit kann sowohl den Verlust des Hörsinns als auch ein sensorisches Defizit, die sogenannte Gefühlstaubheit bedeuten. Im letzteren Fall kann die Wahrnehmung von Schmerz genauso vermindert sein wie das emotionale Empfinden. Emotionale Taubheit kann infolge psychischer Traumata auftreten. Wenn ich einen Schlag ins Gesicht bekomme, kann die entsprechende Stelle kurzzeitig taub werden. Ein Tauber kann nicht mehr sagen, ob er nichts spürt oder hört, weil nichts da ist, oder weil er eben taub ist; gerade das macht ihn zum Tauben.

Wer der Nachrichtendiät meines alten Philosophen nicht folgt, muss an etwas leiden, das ich Informationstaubheit nennen will. Den Informationstauben berührt eine Information, deren Gegenstand unter anderen Umständen extremes Mitleid (oder auch enorme Freude) verursacht hätte, nicht oder kaum. Würde das Dargestellte direkt vor ihm stattfinden, wäre er noch immer tief bewegt; das unterscheidet ihn vom emotional Tauben. Was ihn kaltlässt, ist das, worüber er lediglich informiert wurde. Den energieraubenden Prozess, aus der Information eine plastische Vorstellung zu entwickeln, die die Einfühlung erleichtert, spart er sich. Ein Medienbericht, der eigentlich dazu dienen soll, uns Probleme, die weit von uns entfernt sind, näher zu bringen, kann auf diese Weise zum Filter, zum emotionalen Schutz werden: für die Konsumenten ebenso wie für den Medienschaffenden selbst.

Informationstaubheit ist vorrangig eine sehr nützliche Zivilisationskrankheit, ein erfolgreiches Produkt der kulturellen Evolution, das uns befähigt, in der Welt, die wir haben, zu leben. Doch dieser Schutz ist nur um den Preis eines fortschreitenden Realitätsverlustes zu haben: Der Informationstaube billigt dem Gegenstand des Medienberichts nicht dieselbe Wirklichkeit zu wie dem, was in unmittelbarer Nähe passiert. Was als Schutz gegenüber zu starkem Mitleidsempfinden anfängt, kann so zur Basis für Mitleidlosigkeit und Grausamkeit werden. Solange vor meinem Haus alles ruhig ist, kann ich den Schmerz im Rest der Welt ignorieren. Ich kann sogar – falls das der Ruhe vor meinem Haus dient – mehr Grausamkeit fordern, solange sie nur weit entfernt stattfindet.

Ob man gegen diese Vorstellung nun den kategorischen Imperativ, Smiths impartial spectator oder utilitaristische Überlegungen über die grundsätzliche Gleichberechtigung allen Leidens ins Feld führen will – philosophisch gibt es viel einzuwenden. Allein, es scheint, als gebe es keine Möglichkeit, die Informationstaubheit zu vermeiden, ohne weitgehend auf Information zu verzichten. Die verzerrte Wahrnehmung, die das bedeutet, scheint jeder – auch einer vernunftethischen – Betrachtung den Boden zu entziehen. Es scheint weiter, als seien wir frei, den Verzerrungsgrad, dem unsere Weltsicht unterliegt, frei zu wählen: je nachdem, wie weit wir unsere Informationstaubheit fortschreiten lassen. Es scheint, als gehe heute der Frage, was wir erkennen können, die Frage voraus, was wir überhaupt erkennen wollen. Selbst, wenn wir nicht leugnen, was wir gesehen oder gefühlt haben, können wir doch durch ein entsprechendes Maß an Informationstaubheit unseren epistemischen Apparat soweit manipulieren, dass gewisse Betrachtungsweisen gar nicht mehr infrage kommen. Philosophisch gewendet: Es scheint, als seien wir im Zeitalter des epistemischen Voluntarismus angelangt.

Die daraus resultierende Gefahr liegt einerseits darin, dass wir in einem gewissen Sinn nicht mehr wissen können, was wahr und was scheinbar ist. Andererseits kann uns die zivilisationsbedingte Taubheit, die als Schutz gegen überstarkes Mitgefühl entsteht, jederzeit in ebenso zivilisationsbedingte Mitleidlosigkeit führen. Zwischen der Brutalität der Täter und der Grausamkeit der Dulder besteht in dieser Hinsicht kein prinzipieller Unterschied.

Nun bleibt die Möglichkeit bestehen, auf die ethische Vernunft statt auf das Mitgefühl zu setzen. Doch Vernunft hat sich als Instrument erwiesen, die unseren produktiven Wünschen nicht weniger dienen kann als unseren zerstörerischen – und ebenso unserer Leidenschaftslosigkeit. Die kalte Vernunft eines Thilo Sarrazin ist für ihn ebenso sehr Vernunft, wie die Vernunft eines strengen Kantianers für ihn Vernunft ist. Einige mögen hoffen, sie könnten ohne Rückgriff auf das moralische Gefühl zwischen widerstreitenden Vernunftkonzeptionen eine Entscheidung treffen und andere davon überzeugen. Allein, mir fehlt der Glaube. So bleibt uns wohl nur, uns die Gefahren, die die zivilisationsbedingte Taubheit mit sich bringt, immer wieder bewusst zu machen. 

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