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Es gehört zu den Grundspannungen der Demokratie, dass das „Volk“ theoretisch als Souverän und Auftraggeber des politischen Spiels gilt, praktisch jedoch aus vielen und oft gerade aus den folgenreichsten Entscheidungen herausgehalten wird. Dafür gibt es eine Reihe pragmatischer Gründe: Die meisten Menschen haben weder die Zeit noch die Lust, die Unmenge an oft hochkomplexen Entscheidungen sinnvoll zu treffen. Die Komplexität moderner Gesellschaften verlangt nach Entscheidungen, die auf Expertenmeinungen basieren, die nichtintendierte Folgen weitreichender Entscheidungen offenlegen können. Die wachsende globale Dimension politischer Entscheidungen verstärkt das Komplexitätsproblem noch. Zugleich führt diese Delegation von Verantwortung eben nicht nur an gewählte Vertreter, sondern auch an ein Heer von politischen Beratern, Ministerialbeamten und Expertengremien in weiten Teilen des Souveräns „Volk“ zu einem Gefühl der Entmachtung und einer gewissen Nicht-Verantwortlichkeit für die Folgen solcher Entscheidungen, die nur sehr indirekt mit einem selbst zu tun haben.
Demgegenüber ist Motto der heute in fast allen demokratischen Ländern auftretenden anti-elitären Bewegungen seinem Sinn nach: Let’s take back control! Ob sich die Aggression augenblicklich gegen vermeintlich unproduktive Brüsseler Bürokraten, gierige Banker, internationale Verträge oder dieselhassende Grüne entlädt, die Grundmelodie bleibt gleich: Auf irgendeine nicht-legitime Weise mächtige Gruppen haben die Kontrolle über uns, die normalen Leute, übernommen. Zu den Waffen! Oder wenigstens an die Wahlurne.
Diese Kritik ertönt, mal versteckt, mal allzu deutlich, zusammen mit dem Ruf nach dem starken Mann. Trumps Generalkritik am Washingtoner Establishment brachte wie selbstverständlich ihn selbst als den Erlöser ins Spiel, der ,aufzuräumen‘ habe; die Fünf-Sterne-Bewegung präsentierte sich ebenso als Bringerin eines neuen politischen Zeitalters wie Macrons Bewegung La République En Marche. Die drei ansonsten sehr unterschiedlichen Fälle haben miteinander gemeinsamen, dass sich in allen drei Fällen, kaum dass die alte Elite zumindest zeitweise „besiegt“ war, um den neuen Erlöser rasch eine neue Elite formierte. Der starke Mann ist der Elitenherrschaft nicht entgegengesetzt, er restrukturiert sie nur.
Das stützt erstens Paretos Auffassung, eine Elite werde stets von einer neuen, sogenannten Reserve-Elite, niemals von der Masse abgelöst.[1] Zweitens sticht eine Ähnlichkeit im Politikverständnis dieser drei sonst so unterschiedlichen Bewegungen ins Auge: ihre Output-Orientierung. Ob es um das Lösen (oder Ignorieren) der Klimakrise, das ,Lösen‘ (oder Leugnen) eines Migrations-,Problems‘ oder die Beseitigung (oder das Bestreiten) von Diskriminierung geht, es sind kaum die zu Entscheidungen führenden Verfahren, die die Gemüter erhitzen, sondern die Qualität der Entscheidungen selbst. Wir beobachten damit im Zuge dieser gegen das jeweils alte Establishment gerichteten Ablösungsbewegungen in der von Fritz Scharpf vorgeschlagenen Terminologie[2], eine Verschiebung von Input- zu Output-orientierten Formen der Legitimität.
Die Output-orientierte Sichtweise ist auch deshalb so attraktiv, weil in weiten Teilen der Öffentlichkeit teils trotz jahrelanger wirtschaftlicher Aufschwünge der Eindruck permanenten Improvisierens und Krisenmanagements statt Gestaltung herrscht, das die Jahre seit der Finanzkrise dominiert hat. Wo es ums Überleben geht, kommt es auf die Mittel nicht an, so könnte das implizite Motto einer radikalen Output-Orientierung lauten. So wurde die Bedeutung der Verfahrens- und der Input-orientierten Legitimität beschädigt, in manchen Bereichen ganz zerstört. Das in weiten Teilen durch aufmerksamkeitsökonomisch überformte Medienberichterstattung erzeugte Gefühl der Dauerkrise schafft das dringende Bedürfnis nach raschen, effizienten und effektiven Lösungen, wie sie nur souveräne, d.h. eigenständig handelnde, der Öffentlichkeit gegenüber nur vermittelnd auftretenden Eliten[3] oder messianisch-genialische Führer, jedoch niemals langwierige deliberativ-partizipativer Verfahren liefern können. Damit stellt uns die vermeintliche Dauerkrise, sofern wir nicht eine strengen Medienzensur befürworten wollen, vor die Wahl zwischen einer schwachen Form von Epistokratie mit „Elitensouveränität“[4], oder einer führerorientierten Massendemokratie Trump’schen Zuschnitts.
Die Hoffnung auf hybride Formen, die Input-orientierte Demokratie mit Output-orientierten Expertendiskursen verbindet, wirkt deshalb verfehlt, weil das genau der Weg ist, den man sowohl in den USA als auch in Europa lange Zeit beschritten hat, und der jetzt so stark der „Postdemokratie“[5] entgegenstrebt bzw. darin aufgegangen ist. Gerade, weil die Entscheidungen so dringlich und komplex sind, und weil die Öffentlichkeit nach raschen, effektiven und effizienten Lösungen[6] verlangt, muss sich unweigerlich eine der beiden Varianten durchsetzen, die Lösungen dieser Qualität generieren kann.
Wenn die Freunde der Demokratie dieses Entscheidungsproblem weiter ignorieren oder als ,bloß empirisches‘ Argument herunterspielen, könnten sie der offenen Gesellschaft einen Bärendienst erweisen. Dann wird sich fast zwangsläufig die zweite Option, das heißt die führerorientierten Massendemokratie, verwirklichen. Denn erstens wird sich die Demokratie in ihrer heutigen Form durch die in den Augen der krisengeschüttelten Öffentlichkeit unzureichenden Qualität ihrer Entscheidungen weiter delegitimieren. Zweitens sind es die Anhänger der zweiten Option, die unerschrocken auf das Ende nicht nur der Demokratie, sondern der offenen Gesellschaft selbst hinarbeiten. Die alten demokratischen Eliten können daher die Demokratie in ihrer heutigen Form opfern, um die offene Gesellschaft zu schützen. Sie müssen sich dabei selbst weiter ermächtigen, um bessere Lösungen liefern zu können. In diesem Sinn kann Elitensouveränität nicht nur als revolutionäre Zerstörung, sondern auch affirmativ als evolutionäre Weiterentwicklung, vielleicht als Vollendung der Demokratie verstanden werden. Aber die Entscheidung, wie diese Entwicklung in Zukunft bewertet wird, können am Ende wieder nur die Eliten treffen.
[1] Vgl. Pareto, 1916.
[2] Vgl. Scharpf (2003), Scharpf (2004).
[3] Frank Nullmeier schlägt dafür den Begriff des „Eliten-Verantwortungsmodells“ bzw. der „Elitensouveränität“ (S. 39) vor. Dessen Kern sei die Verantwortbarkeit von Entscheidungen, deren Nachvollziehbarkeit, Transparenz und Bestreitbarkeit. Die gedeihliche Entwicklung der Gesellschaft werde weder dem demokratischen Prozess noch dem freien Markt unvermittelt anvertraut; vielmehr seien es Eliten, die Entscheidungen treffen und verantworten (vgl. Nullmeier, 2013, S. 36).
[4] S. 39.
[5] Vgl. Crouch (2008).
[6] Zur Beziehung zwischen der Effizienz, Effektivität und Legitimität siehe auch Wieland (2007): „Effektivität, Effizienz und demokratische, Legitimität gewinnen ihren Zusammenhang und damit ihre Bedeutung erst durch eine Form der Governance, die diese in ihrem Zusammenspiel zur Geltung bringt“ (S. 34). Diese Governance ist kaum anders denkbar als eine, die durch Eliten designt und durchgeführt wird.
Literatur
Crouch, C. (2008): Postdemokratie, edition Suhrkamp, Frankfurt a.M.
Nullmeier, F. (2013): Die Legitimation der Marktwirtschaft. In: Wirtschaftsdienst, Zeitschrift für Wirtschaftspolitik. 93. Jahrgang, Heft 13, S.34-40.
Pareto, Vilfredo (1935): The Mind and Society [Trattato Di Sociologia Generale], Harcourt, Brace.
Scharpf, F. (2003): Problem-Solving Effectiveness and Democratic Accountability in the EU. MPIfG Working Paper 03/1.
Scharpf, F. (2004): Legitimationskonzepte jenseits des Nationalstaats. MPIfG Working Paper 04/6.
Wieland, J. (2007): Idealistische, ideale und reale Diskurse. Governanceformen des Diskurses. In: Wieland J. (Hrsg.): Governanceethik und Diskursethik – ein zwangloser Diskurs. Marburg: Metropolis, S. 13-59
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