Bild von Hannah Eirich.
Es ist ein Abend, an dem ich eigentlich noch etwas erledigen könnte. Staub auf dem Boden lädt zum Putzen ein, dreckige Wäsche zum Waschen, der Schreibtisch zum Arbeiten. Aber natürlich erledigt man nichts. Nach einer halben Stunde Prokrastination, die vor allem daraus bestand, mir eine sehr abstrakte und komplizierte Ordnung (Sortierung nach Quersumme des Geburtsdatums des Autors) für mein Bücherregal auszudenken, ohne ein einziges Buch anzurühren, habe ich den Anspruch daran, dass aus diesem Abend noch was werden könnte, aufgegeben.
Jetzt sitze ich auf meinem Bett und versuche mir beizubringen, wie man einen Zauberwürfel löst. Und irgendwann kommt Laurenz in mein Zimmer. Ich bin sehr froh ihn zu sehen, lasse es mir aber nicht anmerken. Mit einem Satz landet er neben mir auf der Decke und rollt sich zu einem kastanienbraunen Fellknäul zusammen. Einige Zeit sieht er mir aufmerksam zu, wie ich daran scheitere, diesen blöden Zauberwürfel „aufzuräumen“.
Du solltest eine Zigarette rauchen.“, sagt er schließlich. „Das ist der schlechteste Rat, den mir jemals jemand gegeben hat, um einen Zauberwürfel zu lösen.“, antworte ich, ohne den Blick vom Zauberwürfel zu lösen. „Ich wollte dir gar keinen Rat geben. Ich weiß auch nicht, wie man den lösen kann.“. „Warum willst du mich dann zum Rauchen bringen? Wieso willst du vorsätzlich meine Gesundheit gefährden?“ – „Ach, rauchen ist ungesund?“, Laurenz schnurrt verächtlich. Ich lege den Würfel beiseite. Stattdessen fange ich an, an meinen Fingernägeln zu kauen.
„Ich glaube du hast was falsch verstanden.“
„Du hast doch gesagt, dass ich eine Zigarette rauchen sollte. Und ich sagte vernünftigerweise nein. Wo habe ich dich da falsch verstanden?“
Laurenz richtet sich auf und sieht mich aus glänzend schwarzen Augen an. „Nein, ich meine nicht, dass du meine Aufforderung falsch verstanden hast. Du hast das Rauchen falsch verstanden.“
„Wie kann man da was falsch verstehen? Irgendwann hat mal jemand die merkwürdige Erfindung gemacht, Blätter zu trocknen, in ein Stück Papier einzurollen und das Ganze dann zu inhalieren. Eine Zeit lang haben dann fast alle geraucht, Klein und Groß und jeder Zeit, bis man darauf kam, dass es süchtig macht und noch schlimmer: tödlich ist. Außerdem wird Tabak unter eher zwielichtigen Verhältnissen produziert. Rauchen ist zunehmen aus der Öffentlichkeit zurückgedrängt worden. Und das zurecht. Es ist eine wirklich dumme, unnötige Angelegenheit.“
„Die meisten Tätigkeiten sind dumm, wenn man versucht sie rational abzuwägen. Natürlich ist Rauchen schädlich. Das weiß jeder und es langweilt mich, das immer zu hören. Aber du musst doch zugeben, dass es Dinge gibt, die einfach nur dazu da sind eine bestimmte Bedeutung zu haben. So auch das Rauchen. Wenn du das Rauchen aus der Öko-Yogamattenperspektive mit MatchaLatte und Fitnessstudiomitgliedschaftabonnement siehst, dann macht es selbstverständlich keinen Sinn. Wenn du das Rauchen als das nimmst, was es ist, dann macht es sehr viel Sinn.“
„Und was ist das Rauchen?“
„Es ist eine Unterhaltung. Wolf Wondrascheck hat mal gesagt, dass derjenige, der richtig raucht, also nicht mit der zügellosen Begierde eines Abhängigen oder der dilettantischen Ungeübtheit eines Jugendlichen, die Zigarette wie einen Freund behandelt. Es ist ein beinahe liebevoller Umgang mit etwas, das dich beruhigt, dir langsame, genussvolle Atemzüge und wenige Minuten Auszeit gibt. Menschen, die so rauchen, habe das, was Vielen fehlt: Distanz zu den eigenen Gedanken. Beim Rauchen sieht man dem weißen Tabakqualm dabei zu, wie er sein Ballett aufführt und versinkt ein wenig in sich selber oder dem Gespräch, das man gerade führt. Außerdem ist Rauchen eine Art Rebellion: Rauchen bedeutet heute, sich gegen das vollkommen verselbstständigte Gesundheits- und Leistungsdogma zu stellen. Und es sieht auch einfach schön aus.“
„Mit Verlaub. Das ist das Pathetischste und gleichzeitig Dümmste, was ich jemals von dir gehört habe. Weißt du, was ich glaube? Diese ganze Nummer mit nachdenklichen alten Männern, die in Trenchcoats irgendwo rumstehen und rauchen, ist so abgedroschen. Die amerikanische Zigarettenfirma American Tobacco Company ist in den 1920er Jahren mal an Edward Bernays, einen der ersten PR-Berater und Propagandisten zu dieser Zeit, herangetreten und bat ihn um Rat. Die American Tobacco Company wollte seine Verkaufszahlen steigern. Bernays soll ganz einfach geantwortet haben, dass sie nie mehr Zigaretten verkaufen würden, solange ihr Kundenstamm nur aus Männern bestehe. Amerikanische Frauen durften damals allerdings nicht in der Öffentlichkeit rauchen. Das war ein Tabu. Auf der anderen Seite waren die Suffragetten in den 1920er Jahren sehr aktiv. Die meisten Frauen gingen damals auf die Straße, um vehement für ihr Wahlrecht und ihre Freiheit zu demonstrieren. Bernays hat sich die Bestrebungen der Frauen frei und gleichberechtigt zu sein, zu Nutze gemacht: Er überzeugte Frauen der besseren Gesellschaft davon, in der Öffentlichkeit, genauer gesagt, auf einem der Osterumzüge durch New York, zu rauchen und so das Tabu zu brechen – als Zeichen ihrer Freiheit. Die Nachricht, dass Frauen durch New York mit brennenden Zigaretten, die sie torches of freedom nannten, zogen, verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Und fünf Wochen später sollen Frauen auch in Raucherräumen zugelassen worden sein. Damit vergrößerte sich natürlich auch die Nachfrage an Zigaretten. Bernays Plan ist also perfekt aufgegangen. Dass Rauchen ein Symbol für Freiheit und Souveränität ist, war also ein Werbetrick.“
Laurenz leckt sich eine Pfote, um zu kaschieren, dass er darauf nichts erwidern kann. Ich drehe meinen Kopf ein wenig weg, damit Laurenz das triumphierende Lächeln, das sich auf meinem Gesicht ausbreitet, nicht sieht.
„Aber das ändert doch nichts am Rauchen selbst.“, sagt er einen Moment später, „viele Dinge wollen wir nur, weil unser Wille beeinflusst worden ist. Kein Grund den Kopf in den Sand zu stecken. Rauche oder rauche nicht. Weder das eine noch das andere macht dich zu einem besseren oder schlechteren Menschen. Du darfst nur nicht den Fehler begehen und sagen, dass das Rauchen eine vollkommen bedeutungslose Sache ist. Wie gesagt: Rauchen ist etwas zutiefst Menschliches – im Prinzip das kultivierte Bedürfnis nach Genuss, Ruhe, Reflexion.“
Jetzt weiß ich nicht was ich sagen soll. Also bewege ich nur leicht meinen Kopf als Zeichen meiner Zustimmung.
„Was machst du eigentlich, wenn du das Bedürfnis nach Genuss, Ruhe und Reflexion hast?“, frage ich schließlich.
„Das sage ich dir nicht.“, erwidert Laurenz. Dabei steht er auf, macht einen Buckel und schüttelt von seinem schlanken Körper die Trägheit ab. Einen Moment hält er noch inne, dann springt er ruckartig von meinem Bett und verschwindet galoppierend nach draußen. Ich frage mich, ob ich Lust habe, eine Zigarette zu rauchen, komme aber zu keinem Ergebnis. Vielleicht gehe ich später noch zur Tankstelle und kaufe mir eine Schachtel. Für den Fall.