„Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein.“
Diesen berühmten Satz lässt Johann Wolfgang Goethe seinen Doktor Faust an den Studenten Wagner richten, während die beiden am Ostersonntag einen Spaziergang am Rande der Stadt machen. Der Satz steht am Ende einer längeren Passage, die eindrucksvoll zuerst das Naturschauspiel des kommenden Frühlings und anschließend die ausgelassene Lebensfreude der Menschen in der Stadt beschreibt. Es zieht die Menschen zur Feier des Osterfestes aus ihren düsteren Häusern in die blühende Natur:
„Ich höre schon des Dorfs Getümmel,
Hier ist des Volkes wahrer Himmel,
Zufrieden jauchzet groß und klein;
Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein.“
Goethe zeichnet einen Gegensatz zwischen dem dunklen Stadtleben der Menschen und der hellen Natur, und die Besonderheit einer Aufhebung dieses Gegensatzes am hohen Festtag. Zugleich zeigt sich in dieser Vereinigung eine Unschuld, eine Rechtfertigung menschlichen Seins. Die Befreiung von den moralischen Abgründen des Menschen, der an diesem Tage seine Erlösung durch Jesus Christus preist, umschreibt Goethe mit dem Zug in die freie Landschaft. Das Zusammen-kommen von Mensch und Natur wird zum Bild der moralischen Befreiung.
„Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein.“ Können wir diesen Satz heute, kurz vor der irreversiblen Zerstörung unseres eigenen Lebensraums, kurz vor einem totalen Kollaps des ökologischen Systems noch aussprechen? Haben sich die von Goethe angedeuteten Pole düsteren Menschseins und heller Natürlichkeit nicht maximal voneinander entfernt?
Wann darf der Mensch Mensch sein, wann darf er es nicht? Die Frage scheint eng mit der Ethik verbunden. Ein Verbot, Mensch zu sein, kann sich nur daraus ergeben, dass der Mensch als solcher schlecht ist. Die These dieses Artikels soll nun sein, dass er dies nicht ist – was nicht weiter begründet wird –, dass jedoch das gegenwärtige Wirtschafts- und Energieversorgungssystem ihn in eine Schuldsituation drängt, die sein Menschsein als solches infrage stellt.
Für die Zerstörung der Natur und der Lebensgrundlage aller Lebewesen auf diesem Planeten trägt die Menschheit die Verantwortung, sie hat diese Katastrophe verschuldet. Doch macht die kollektive Dimension dieser Verschuldung eine direkte Schuldzuschreibung kaum möglich. Die Frage nach der Schuld des Einzelnen in kollektiven Unrechtssystemen ist bereits nach der NS-Diktatur intensiv diskutiert worden. Diesbezüglich hat niemand bezweifelt, dass mitwissende Teilnehmer des Systems für ihre Mitläuferschaft verantwortlich gemacht werden müssen.
Warum also fühlen wir uns nicht schuldig, während wir als Mitläufer dieses Systems für alle jungen Menschen (mittlerweile sogar für die etwas älteren) eine existentielle Katastrophe verursachen?
Uns ist bisher kaum eine Wahl gelassen worden, denn die Teilnahme an der gegenwärtigen Gesellschaft zwingt uns zu moralisch verwerflichem Handeln. Unser Zusammenleben ist unheimlich energieaufwendig. So werden die alltäglichen, unmittelbar vertretbaren Handlungen wie die Nahrungsaufnahme, die Selbstverwirklichung durch Reisen oder kreative Tätigkeiten zur moralischen Untat. Eingebettet in den gegenwärtigen Strukturen des Zusammenlebens macht sich jeder einzelne Mensch schuldig, indem er das Verfügbare an Nahrungsmitteln, Energiezufuhr und Mobiltätsangeboten nutzt, um sich am Leben zu halten. Handlung und zugehörige Schuld stehen in einem grotesken Missverhältnis. Dass die Nutzung von Plastiktüten, fossilen Energieträgern und tierischen Produkten mittelbar und unsichtbar Leid erzeugt, macht es dem Systemteilnehmer noch schwieriger, die einzelne Handlung den schwerwiegenden Folgen zuzuordnen, zu welchen sie zweifellos beiträgt. Allein wer hinterfragt, sich umfassend informiert und dementsprechend weise Kaufentscheidungen trifft, kann sich dieser Schuld teilweise, aber niemals vollständig, entziehen.
Schuld durch Mitläuferschaft ist ein Phänomen, das die politische Menschheitsgeschichte vollständig einnimmt. So hat man sich als Angehöriger einer höheren Schicht in allen sozial ungleichen Systemen der Aufrechterhaltung des Unrechts schuldig gemacht. Die Schuldsituation der Naturzerstörung aber übersteigt alle bisherigen Dimensionen. Insofern sie alle Lebensbereiche sowie alle Kulturen durchzieht und der Erdball im Ganzen ihr Opfer darstellt, befindet sich der Einzelne nicht nur als Angehöriger einer bestimmten Gesellschaftsschicht, sondern als Angehöriger der Menschheit überhaupt in der Verantwortung. Er ist schuldig geworden qua Mensch.
Ein gesellschaftliches System, das den Einzelnen derart mit Schuld belädt, das den sich am Leben erhaltenden Menschen in die Rolle des überdimensional moralischen Unwesens zwingt, scheint letztendlich in ein Seinsverbot zu münden. Ein Urteil, das sich mit der Klimakrise auch gleich vollzieht, denn: „Die Menschheit schafft sich ab“, wie Harald Lesch es formuliert.
„Hier bin ich Mensch; hier darf ich’s sein.“ Angesichts des ökologischen Zusammenbruchs eine beinahe zynisch anmutende Aussage.
Es liegt an uns, sie wieder gültig werden zu lassen. Die Menschheit muss jetzt ihr Sein rechtfertigen in einer Situation von nie dagewesener Brisanz. Sie muss sich mit der Natur wieder verbinden, um – wie unsere obige Interpretation der Passage aus dem „Faust“ nahelegt – die moralische Erlösung zu erlangen. Das ist ganz offensichtlich nur durch eine strukturelle Neuorientierung möglich.
Nur so besteht für die Menschheit, nachdem sie sich vom ewigen Wachstumsgedanken auf gefährliche Irrwege hat verführen lassen, die leise Hoffnung, dass, ganz wie im „Faust“, von oben her die erlösende Stimme ertönt:
„Ist gerettet!“