An einem lauen Abend des letzten Frühsommers ging ich in der Innenstadt Münchens spazieren. Gedankenversunken betrat ich, von der Dienerstraße kommend, den Marienplatz und schrak plötzlich auf, als ich einen Adhān hörte, den Gebetsruf eines Muezzins. Der Klang erinnerte mich an meine Zeit im Orient und rief eine überraschende Freude in mir hervor. Ich lief deswegen ein bisschen schneller und folgte dieser Musik, die so schön in meinen Ohren klang… und plötzlich stand ich vor einer Pegida-Demonstration. So schnell die Freude gekommen war, so schnell wich sie einer komischen Betroffenheit. Mit Kreuzzugsmetaphorik wurde sich da kollektiv vor der Islamisierung des christlichen Abendlands gefürchtet. Das Symbol für all das Fürchtenswerte und Schlechte sollte der Gebetsruf sein. Ironischerweise wurde der Adhān nicht vollständig abgespielt. Der Ruf endete nämlich eigentlich mit dem Bekenntnis zum Monotheismus – damit könnten sich ja möglicherweise auch Verfechter des abendländischen Christentums anfreunden…
Diese Szene wirkte lange in mir nach und warf einige Fragen auf: Wie kann es sein, dass etwas, das ich als so schön und freudig empfunden habe, bei anderen Menschen als Projektionsfläche für alle möglichen fürchterlichen Dinge herhalten kann und muss? Warum halte ich selbst den Gebetsruf überhaupt für schön?
Ich erinnere mich noch gut, als ich den Ruf des Muezzins zum ersten Mal gehört habe. Sehr erhebend war es nicht, um 4 Uhr früh aus dem Schlaf gerissen zu werden. Aber nach einiger Beschäftigung mit arabischer Kultur und islamischer Religion darf ich darin mittlerweile mehr sehen als irgendein Gejaule zu unchristlicher Zeit. Ich entdecke Schönheit darin. Ein wesentlicher Faktor dieser Schönheit besteht darin, dass ich hinter diesem Ruf einen Menschen und eine Gemeinschaft sehe, die öffentlich für ihre Überzeugung eintreten. Indem ich erkannte, dass hinter diesem Gesang mehr stehen kann als bloß eine Melodie und der Textinhalt des Gebetsrufes, sah ich plötzlich auch die Schönheit darin. Dieses „Mehr“ besteht im Sinn, also einer Grundhaltung, die ein Mensch in diesen Gesang hineingelegt bzw. zum Ausdruck gebracht hat und die ich auch darin sehe. Im Hören des Adhān findet also fast so etwas wie eine Begegnung mit einem Menschen statt; ich werde berührt durch eine aufrichtige Überzeugung, die ich darin sehe.
Ob hinter einem konkreten Gebetsruf tatsächlich ein konkreter Mensch mit seiner Glaubensüberzeugung steht, halte ich ab einem gewissen Punkt für irrelevant. Sehr wohl für relevant halte ich aber, dass es eine Beschäftigung mit diesem zuerst fremden Sinnsystem gebraucht hat, um diesen Sinn mit dem Gesang zu verbinden. Wichtig ist auch die Richtung, zu der mich diese Sinnerkenntnis führte, nämlich dazu, dass ich diesen Gebetsruf als schön empfinde. Das wiederum hat Auswirkungen darauf, wie ich konkreten Menschen aus dem arabischen Kulturkreis begegne.
Ein weiteres Beispiel solcher Schönheit kann das Ende von Arnold Schönbergs „Ein Überlebender aus Warschau“ sein. Das Werk thematisiert die Niederschlagung des Aufstands im Warschauer Ghetto. Im Schlussteil singen die Todgeweihten unisono das beim Schma Jisrael, das jüdische Glaubensbekenntnis. Das Stück wirkt dissonant und arhythmisch und dennoch finde ich besonders im Schlussteil eine eigene Art von Schönheit, die sich weder durch eine ansprechende Form noch durch einen angenehmen Inhalt erklären lässt.
Das Singen des Schma Jisrael ist in dieser Situation mehr als einfach nur ein Glaubensbekenntnis. Hier wird der verzweifelte Schrei der Opfer von Brutalität, Gewalt und Missbrauch nach einer ihr Leid transzendierenden Wirklichkeit deutlich hörbar. Ob man an Gott und dessen letztliche Güte glaubt oder nicht, ist hier nicht entscheidend. Für entscheidend halte ich aber wieder eine Haltung, die hier repräsentiert ist. Erstaunlich ist hier, dass möglicherweise keine Überzeugung an sich repräsentiert ist, sondern das Ausstrecken nach Sinn mitten in einer Wirklichkeit, in der jede Ideologie sinnlos erscheint. Vielleicht ist es gerade diese Leerstelle des Sinns, die an diesem Stück so berührt und die geschlossen werden will. Repräsentiert sehe ich darin die Menschen, die in ihrem Leben mit einer solchen Leerstelle zu kämpfen haben – und trotzdem kämpfen. Wieder brauchte es eine Anfangsmühe, ein Konfrontieren mit Umständen, die nicht unbedingt angenehm sind, um hier eine Schönheit zu sehen.
„Schönheit wird die Welt retten“ Dieses berühmte Zitat aus Dostojewskis „Der Idiot“ könnte uns in Zusammenhang mit der vorher hergestellten Verbindung von Sinn und Schönheit helfen, das Streben nach Schönheit als eine Leitlinie für unser Leben zu begreifen. Indem wir nach Schönheit streben und sie im Sinn erkennen, öffnen wir uns für den Anderen. Das führt uns vielleicht sogar zur tätigen Liebe. Potentiell hat Schönheit die Kraft die Welt zu retten, insofern sie uns ermutigt, einen immer neuen Blick auf die Welt zu werfen und so Hass und Spaltung zu überwinden – Mühe und Schmerz kostet das jedenfalls.
Ich denke wieder an die Pegida-Demonstration im Frühsommer. Habe ich versucht irgendwo bei diesen Demonstrierenden oder in ihrer Furcht Schönheit zu sehen? Bemühen wir uns tatsächlich die Schönheit zu sehen, die uns retten könnte?