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Silvester ist eine Zeit, in der man kurz alles für möglich hält, obwohl man es besser weiß. Etwas Neues beginnt. Man hat Vorsätze oder Hoffnungen. Am Ende ist nur sicher: Man sollte auf Facebook keine Diskussionen führen, nicht in diesem Jahr, nicht in einem anderen.
Vielleicht werden letzte Worte überschätzt. Vielleicht sind sie nicht wichtiger als erste Worte oder noch unwichtiger. Vielleicht kommt es nur darauf, dass es sie überhaupt gibt. Vielleicht liegen Jahresrückblicke gerade deshalb grundsätzlich daneben, weil uns die Kategorie Jahr plötzlich Dinge zusammendenken lässt, die nichts miteinander zu tun haben, und Dinge auseinanderreißt, die in enger Beziehung stehen. Vielleicht sollten wir aufhören, auf diese Weise über Zeit zu denken: als etwas, das in Scheiben, Stücken oder Blöcken auftaucht. Vielleicht wird dem Ende des Jahres wie auch dem Ende des Lebens zu viel Bedeutung zugemessen, und vielleicht bietet beides gleichermaßen Anlass zum Feiern.
Solche Dinge im Hinterkopf – was habe ich nicht alles in Betracht gezogen, als Thema für so eine erste letztes Lagebesprechung des Jahres! Und wie viel Glaube an die Kategorie Jahr verrät das. Ein selbstreflexiver Essay über das Schreiben von Essays; ein kritischer Rückblick auf alle Jahresrückblicke und die Frage, warum man den Blick ausgerechnet dann dann hinten richtet, wenn man eigentlich glauben sollte, jetzt passiert gleich etwas Neues. Darüber hätte ich nachdenken können: dass uns ein deutscher Journalist, der seine Reportagen frei erfindet, möglicherweise etwas viel Wichtigeres erzählt als seine ehrlichen Kollegen: weil er uns statt über die äußere Wirklichkeit über unsere Wünsche, wie diese Wirklichkeit aussehen soll, und entsprechend auch über das aufgeklärt hat, was wir über diese Wirklichkeit zu glauben bereit sind. Wenn auch unabsichtlich.
Ich hätte auch etwas Selbstironisches über all die Kämpfe sagen wollen, die ich hier ausgerufen habe: der Kampf des Einzelne gegen die Sinnlosigkeit des Lebens oder gegen das Unbehagen in der Philosophie; der Kampf der Linksliberalen gegen den Rest. Am Schluss hatte ich sogar die Idee, als Letztes etwas über Relevanz zu sagen: als ein Konstrukt, mit dem jeder rechtfertigen kann, dass er sich mit dem beschäftigt, womit er sich immer beschäftigt hat, auf das jeder angewiesen ist und das doch durch die allgemeine Verwendung immer weiter geschwächt wird, bis man vielleicht sagen muss, die Relevanz hat keine Relevanz mehr, wir sollten uns einen Ersatz suchen.
Am Schluss habe ich mich für etwas anderes entschieden. Es geht um, Achtung, Silvesterraketen. Dass das Thema aufgrund des Datums über Aktualität verfügt, hat geholfen, war aber nicht entscheidend. Entscheidend war eine Diskussion, die ich auf Facebook verfolgt habe: über das Verbot von Feuerwerk. Ja, ich weiß: Man sollte niemals Diskussionen auf Facebook verfolgen, wenn man ruhig schlafen oder niemanden mit Hitler vergleichen will. Weil immer potentiell die ganze Welt zuschaut, kann man keine Zugeständnisse machen und keine Fehler eingestehen. Weil die Zeit knapp ist, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, missverständlich zu formulieren oder andere misszuverstehen; und weil schließlich jede These im Tonfall der Endgültigkeit formuliert ist, muss die Gegenthese mindestens eine Herabwürdigung dieser Anmaßung enthalten.
Silvester hingegen: das ist eine Zeit, in der man kurz alles für möglich hält, obwohl man es besser weiß. Etwas Neues beginnt, man hat Vorsätze oder Hoffnungen. Die Feierlichkeiten und die damit einhergehenden Verpflichtungen, die lang nicht gesehenen Leute, das ach so alt siehst du schon aus, das ach das machst du mittlerweile, das wie du bist jetzt mit der zusammen, das Anreisen, das im Zug sind alles nur Vollidioten außer man selber, oder man selber ganz besonders, weil man hat sich ja überreden lassen, die Reise anzutreten; das die Viren in der trockenen Luft, die Kälte am Bahnhof verfluchen, das sich so fürchten während der ersten Stunden, die Viren könnten tödlich und multiresistent sein, bis man irgendwann anfängt, darauf zu hoffen; das sich entschließen, dieses Jahr kein Feuerwerk; das irgendwie doch auftauchende Feuerwerk; das die Männer, die versprechen müssen, vernünftig zu sein; die Männer, die nicht vernünftig sind, die Frauen, die die Stimmung verderben; die Männer, die schuld sind, dass ihnen die Frauen die Stimmung verdorben haben; das den großen Knall anhören, das mit zu kaltem Sekt anstoßen, das schlecht angeleuchtete Gesichter betrachten, das Feinstaub in der Luft spüren, Feinstaub in der Lunge, Alkohol im Blut, verlaufende Blicke, das apodiktisch wissen, dass nichts besser wird, das ach du bist auch noch hier, das echt scheiße dass es jetzt regnen muss ist, guten rutsch dir, gell, das wieso tun wir uns das an, das zum glück wird es ein jahr dauern bis zum nächsten mal das ja wir sehen uns bestimmt noch vorher das ja diesmal ruf ich dich an.
137 Millionen Euro in ein paar Minuten zu verbrennen, dabei ein paar Daumen abzusprengen und jedes Jahr zwei, drei Leute zu Tode kommen lassen, das ist weder schön noch vernünftig. Sich davon die Laune verderben zu lassen, irgendwie auch. Wird das Schöne weniger schön, wenn es aus hässlichen Quellen stammt? Man muss es aber auch für das Schöne halten. Wer darauf keine Lust hat, kann originellerweise Silvester auf den Bahamas verbringen oder um neun schon die Schlaftabletten einwerfen und den ganzen Bums verpennen. Selbst wenn wir uns nur noch im Gegensatz zu dem verstehen würden, was unseren Mitmenschen Spaß macht, selbst wenn wir uns vor ihnen verstecken, bleiben wir durch diesen Gegensatz umso mehr Teil der Gesellschaft. Das kann uns passen oder nicht. Konsequenterweise lässt sich eigentlich nur schließen, dass wir deshalb umso mehr Feuerwerk und umso mehr Sekt brauchen, je weniger Spaß es macht. Wie jeder weiß, hat man genau dann am meisten Spaß, wenn man sich ganz fest vornimmt, von jetzt an ganz viel Spaß zu haben. Die Maßlosigkeit und die verengten Sichtweisen sind tief eingebaut in die Funktionsweise unserer Gesellschaft. Wenn wir ihre Vorteile wollen, müssen wir halt auch mit dem abgesprengten Daumen leben: Dafür ist das Gesundheitssystem effizient und die Straßen gut ausgebaut. Dementsprechend kann ich eigentlich nur folgende Hoffnung anbieten: Wenn man es schon vorher wirklich, wirklich klar macht, dass alles so kommen wird, so und nicht anders, dann ist man hinterher garantiert nicht enttäuscht. Und wenn man dann wirklich nicht mehr damit rechnet – dann gibt es am Ende doch die Momente, in denen man fühlt, es ist gut, wirklich alles, und man sich sagt, jedem Ende wohnt ein Zauber inne, wie schon Goethe oder so wusste.
Ein Kommentar zu „Letzte Worte“