Gullivers Ordnung

Bild von Hannah Eirich.

Heute morgen habe ich meine Wohnung verlassen – in einer Seelenruhe. Ich habe einen Milchkaffee getrunken, eine Scheibe Brot gegessen, meinen Rucksack genommen und mich auf den Weg gemacht. Mal nicht auf Snooze gedrückt. Mal mich nicht im Nachhinein geärgert. Mal mich nicht dem Gefühl, ich befände mich unter Wasser, sei schwerelos, alles sei gedämpft, alles sei warm – dem Halbschlaf– hingegeben. Auf dem Weg zum Bus hatte ich sogar die Zeit, einigen Frauen, die ihre schon morgens super aktive Kinder in den Kindergarten brachten, verständnisvoll zuzunicken, wenn ihr Sohn oder ihre Tochter mir mit ihrem Laufrad ans Schienbein fuhr.

Jetzt, ungefähr acht Stunden später, am Abend, ist die Idylle von heute morgen längst verflogen, weil ich eine Sache nicht dabei hatte, als ich mich heute morgen in den Bus gesetzt hatte: den Stick, auf dem die Präsentation war, die ich wenig später eigentlich hätte halten sollen, aber letztendlich nicht gehalten habe. Jetzt schließe ich in einer Bewegung meine Tür auf, gehe hinein, verliere auf dem Gang Schuhe, Jacke, Rucksack und bleibe erst in meinem Zimmer wieder stehen. Laurenz liegt dort auf dem Teppich vor meinem Bett und hebt den Kopf.

Hallo.“, sagt er.

Hm.“, sage ich.

Ist was?“, sagt er.

Es ist immer was“, sage ich.

Laurenz dreht sich auf den Rücken und rollt die Augen. Zumindest sieht es so aus und wahrscheinlich hat er auch Recht damit.

Ich habe heute morgen diesen Stick vergessen. Und ich konnte den ganzen Tag nicht damit aufhören, mich darüber zu ärgern.“

Ich wäre heute morgen beinahe von einem Laufrad überfahren worden.“

Tja“, sage ich, „wer von uns hatte jetzt den beschisseneren Tag?“

Du. Warum fragst du das überhaupt, als ob das irgendetwas wäre, auf das man Stolz sein könnte?“

Während Laurenz dem halbgeschmolzenen Eisbecher von schlechtem Vanilleeis, der mein Tag ist, noch eine tiefgefrorene Erdbeere aufsetzte, habe ich mich meinem Schreibtisch zugewandt. Ich schiebe Papierstapel herum, werfe Blätter in den Papierkorb oder auf den Boden daneben, räume Bücher in das Regal und vom Regal wieder auf den Schreibtisch. Stifte, Locher und Kabel landen geräuschvoll auf dem Boden, die kleine quadratische Holzkonstruktion, die ich von einer Freundin einfach so bekommen habe, stelle ich sanft neben mein Bett, nur um sofort weiter an meinem Schreibtisch zu wüten. Laurenz sitzt mittlerweile in sicherem Abstand auf der Kommode am anderen Ende des Zimmers. Behilflich sein kann er mir ja nicht wirklich, trotzdem ist es mir unangenehm, dass er mir zusieht. Nachdem ich viel zu lange in meinen Unterlagen gewühlt habe, ist der Stick erwartungsgemäß natürlich nicht aufgetaucht. Ich lasse mich auf mein Bett fallen.

Warum versuche ich denn überhaupt, Ordnung zu halten? Warum räume ich überhaupt irgendwas auf? Ich lege Dinge vollkommen willkürlich an Orte und nenne das dann Ordnung. Aber nach und nach schleicht sich das Chaos ohnehin wieder ein. Dann liegt eine Sache nicht an dem Ort, an dem sie, meinen vollkommen willkürlichen Ordnungskriterien nach, eigentlich liegen sollte.“

Krieg dich doch mal wieder ein.“, ruft mir Laurenz von der anderen Ecke des Zimmers zu. Es klingt aber nicht so kraftvoll, wie ich es von ihm gewohnt bin. Eher wie ein halbherziger Versuch, mir nicht recht geben zu müssen, sondern einfach etwas vollkommen anderes zu sagen.“

Ja, aber denk doch mal darüber nach: ich weiß nicht, warum ich Dinge in meinem Zimmer so anordne, wie ich es tue. Ist es sinnvoll, meine Bücher nach Autoren, nicht nach Entstehungsdatum, zu sortieren? Oder meine Briefe in der linken Ecke meines Schreibtisches zu lagern? Ist Gewohnheit ein Kriterium, das maßgeblich hinter der Ordnung meiner Dinge steht?“

Durch Laurenz‘ Körper geht ein kurzer Ruck. Dann springt er lässig von der Kommode ab und landet geräuschlos auf dem Boden.

Ich würde mal annehmen, dass du deine Dinge so ordnest, wie es dir deine Eltern beigebracht haben. Natürlich hängt es auch davon ab, was du für Möbel zur Verfügung hast. Ohne ein Bücherregal oder einen Schreibtisch sähe es hier bestimmt auch interessant aus.“

Trotzdem: wozu das ganze? Wenn nur eine Sache nicht an ihrem Platz ist, wie mein Stick heute morgen, der eigentlich immer auf dem Zeitungsstapel liegt, kann das verheerende Folgen haben. Auch wenn alles andere im wahrsten Sinne des Wortes in Ordnung ist“, sage ich und sehe meiner eigenen Hand dabei zu, wie sie immer wieder die Falten meiner Bettdecke mit einer Bewegung glattstreicht und mit der anderen die Falten wieder herzaubert.

Naja. Du darfst eben nicht erwarten, dass du dieses Wirrwarr, dieses Chaos, das die Welt ist und deren Gang unkontrollierbar, unvorhersehbar, zähflüssig, dennoch rasend schnell, ist, in eine Ordnung zwängen kannst. Und zwar eine Ordnung nach Kriterien, die unvollständig und mangelhaft sind. Denn du bist ja auch nur ein Mensch“, erwidert Laurenz. „Komm mir jetzt nicht nochmal mit der Frage, warum man dann überhaupt Ordnung halten soll. Es ist Dienstag. Und Dienstag ist kein guter Tag für Nihilismus.“

Es ist Mittwoch.“

Auch kein guter Tag für Nihilismus.“

Ist irgendwann ein guter Tag für Nihilismus?“

Hm. ,Guter Tag für Nihilismus´ klingt etwas widersprüchlich. Vielleicht eher so Dienstagnacht.“

Egal.“

Ich versuche, unser Gespräch wieder dahin zurückzubringen, wo es gerade noch gewesen war. „Da ist also mein Zimmer, über dessen Werdegang und Ordnung ich nur eingeschränkt Kontrolle habe. Und ich will natürlich auch nicht, dass die Kriterien, nach denen ich meine Dinge anordne, unflexibel werden. Denn angenommen, ich bekomme ein Möbelstück, das einfach nicht in meine bisherige Ordnung passt. Dann muss ich umdenken. Zum Beispiel eine Marmorsäule aus Spanien. Für die müsste ich mein gesamtes Mobiliar verrücken“, ich überlege einen Augenblick, „Warum überhaupt stelle ich meine Bücher in ein Bücherregal. Vielleicht macht das gar keinen Sinn. Vielleicht sollte ich meine Bücher auf dem Boden auftürmen – “

Jetzt bist du an einem gefährlich relativistischen Fahrwasser gelangt“, unterbricht mich Laurenz und läuft erregt zu meinem Bücherregal. „Bücher machen Sinn in einem Regal, weil man dann den Buchrücken sieht und sich besser zurecht findet. Und darum geht es doch überhaupt bei der Ordnung: man will sich zurechtfinden.“

Laurenz ist zweimal vor meinem Bücherregal auf und ab getrabt und setzt sich jetzt wieder hin. „Ich denke, dass der beste Weg, Ordnung zu halten, Elastizität ist. Man muss sich eine sinnvolle Ordnung suchen und auf alle Ordnungen flexibel reagieren. Du bekommst eine Marmorsäule aus Spanien? Dann schiebe deine Möbel solang um, bis es passt. Du verlierst deinen Stick? Dann solltest du die Ordnung, mit der du deine Arbeitsutensilien organisierst, nochmal überdenken.“

Aber was soll das denn heißen ,bis es passt´? Wann weiß ich denn, wann es passt?“

Na, das wirst du dann schon wissen!“

Das ist eine sehr unbefriedigende Antwort.“

Aber eine bessere haben weder du noch ich nicht.“

Eine Minute herrscht Stille.

Außerdem“, sagt Laurenz auf einmal, „es ist nur Ordnung. Man sollte nicht allzu viele Gedanken auf so etwas Kontingentes verschwenden.“

Ich nicke stumm und versinke bei dem Anblick der vielen bunten Buchrücken, die mich freundlich und einladend anblicken, für einige Augenblicke in Gedanken. Laurenz streicht um meine Beine. Ich bücke mich herunter und kraule seinen Kopf.

Laurenz schnurrt. Ich schnurre.

Laurenz hört auf zu schnurren. Ich höre auf zu schnurren. Laurenz geht in Richtung Küche. Ich folge ihm nach. Wir haben Hunger.

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