Bild von Hannah Eirich.
Ich stehe in der Mitte meines Zimmers und versuche, meine Zehen zu berühren. Es gelingt mir nicht, obwohl ich es mit zusammengebissenen Zähnen immer wieder versuche. Meinen Oberkörper bedeckt ein farbiges, atmungsaktives T-Shirt, das bestimmt im Falle des Falles auch als Löschdecke verwendet werden könnte. Meine Beine sind in enge Leggins eingesperrt. Aber das macht nichts. Ich habe eine Mission. Heute wird der Tag sein, an dem ich jubelnd in den Chor der Glücklichen miteinstimme, die sich ihrer müden Glieder und angestrengten Muskel erfreuen: ich gehe joggen. Als ich endlich aufgebe, meine Füße berühren zu wollen und mich aufrichte, sehe ich Laurenz, der vollkommen regungslos vor mir sitzt. Er stützt sich auf seine winzigen Pfoten, der buschige Schwanz liegt eng an seinem Körper. Sein Blick belustigt, fast verschmitzt. Wir schweigen einen Moment, während ich die Pose wechsle und meine Oberschenkel dehne.
„Was machst du da?“, fragt er mich dann.
„Ich möchte gleich eine Runde laufen gehen. Davor sollte man sich dehnen.“, erwidere ich und hoffe, dass nicht nach einer Begründung verlangt wird.
„Gibt es einen Grund dafür?“
„Ich brauche keinen Grund, um Sport zu machen. Sport ist gesund, macht glücklich, hält jung und schlank.“
Laurenz wischt sich mit einer kastanienbraunen Pfote über die Schnauze.
„Ich verstehe nicht, wie sich gegen 17:00 abends ganze Völkerwanderungen bilden, die arm, reich, dick, dünn, groß, klein, alt, jung, Frau, Mann, Fahrrad- oder Autofahrer, privat oder gesetzlich versichert, nebeneinander, brüderlich vereint durch die Straßen ziehen und joggen.“
„Du musst es ja nicht verstehen.“, sage ich unbeeindruckt und beginne meine Laufschuhe zu schnüren.
„Ich habe nichts dagegen, wenn du Sport machst oder wenn irgendjemand Sport macht. Ganz im Gegenteil. Aber ich glaube alle Nikeapologeten, Addidaspriester und Yogamums rennen, im wahrsten Sinne des Wortes, dem falschen Ideal nach.“
„Sehr originell.“, sage ich und meines es natürlich nicht so.
„Du verstehst nicht. Sport ist irgendwie zu einem Zwang geworden. Wenn voll ausgerüstete Männer und Frauen mit einer ganzen Menge Elektronik an ihrem Körper durch die Gegend laufen und dabei nicht aussehen frage ich mich: wozu?“
„Diese Frage ist wirklich total out. Sport ist eben nicht nur primitive Erhaltung der physischen Fitness oder einfach so vollkommen luxuriös und sinnlos. Sport kann ganz andere, bedeutendere Effekte haben. Unseren Körper nehmen wir zum Beispiel nicht wahr, solange wir keine Schmerzen haben oder keine Anstrengung verspüren. Wenn ich jetzt aber laufen gehe, strenge ich mich vorsätzlich an und spüre meine Beine, meinen Atem, meine Füße. Ich nehme einen Teil meiner selbst wahr, der im „Trägheitszustand ohne Schmerzen“ nicht in mein Bewusstsein dringt: meinen Körper. In gewisser Weise ist Sport die Lösung des Leib-Seele-Problems.“
Laurenz hat seine Ohren gespitzt.
„Das Sich-Seines-Körpers-Bewusst-Werden kann auch ganz andere Implikationen haben. Frauen können während des Sports zum Beispiel vergessen, dass ihre Körper mit Bedeutungen aufgeladene Symbole und Arenen für gesellschaftliche Debatten sind. Stattdessen erleben sie zum Beispiel, dass sie die Beine – trotz Gebärmutter, Vagina und Brüsten – irgendwohin tragen können.“
„Okay.“, sagt Laurenz, „das ist einleuchtend. Aber Menschen haben ja auch andere Bedürfnisse, als ihren Körper als „funktionstüchtig“ zu erleben, sich auszupowern oder schlicht und ergreifend etwas für ihre Gesundheit zu tun. Weißt du, was man viel zu selten sieht?“
„Nein.“
„Spaziergänger“, sagt Laurenz und er zuckt aufgeregt mit dem Schwanz.
„Die Leute gehen nicht mehr spazieren. Entweder man sitzt am Schreibtisch oder man geht joggen und powert sich aus. Go hard or go home. Aber was machen Menschen, wenn sie an die frische Luft wollen, aber etwas zu besprechen haben, oder über etwas nachdenken wollen oder einfach nur einen neuen Mantel der Öffentlichkeit präsentieren. Man schlendert einfach nicht mehr. Dabei kann das Bedürfnis nach kontemplativer Bewegung doch nicht einfach verschwunden sein. Ich glaube ja, dass der Sport, besonders das Laufen, kleinere Bewegungsformen wie das Spazierengehen einfach verdrängt hat.“
„Sonntags gehen doch ganz viele Leute spazieren.“
„Aber die sehen oft nicht so aus als ob sie Spaß hätten. Was ich sagen will: Joggen ist kein Zwang und nicht angebracht für jeden Anlass. Manchmal ist es besser spazieren zu gehen. Außerdem sehen Spaziergänger einfach besser aus. Jogger sind so furchtbar unästhetisch. Wie auch immer.“, er sieht zum Fenster.
„Es sieht nach Regen aus. Ich beeile mich wohl lieber.“ Laurenz löst sich aus seinem starren, aufrechten Sitz und verfällt schlagartig in einen Galopp, der ihn in weniger als einem Wimpernschlag aus meinem Zimmer verschwinden lässt.
„Wo gehst du hin?“, rufe ich ihm hinterher.
Als ich keine Antwort höre, sehe ich an mir herab. Einen Moment später schnüre ich unsicher und zögerlich meine Laufschuhe wieder auf, streife die Leggins und das Oberteil ab. Ich gehe zur Kommode, hole einen Rock und einen Pullover heraus, ziehe beides über. Auf dem Weg nach draußen werfe ich meine Mantel über und klemme mir einen Regenschirm unter den Arm. Es sieht in der Tat nach Regen aus.