Die heilende Wirkung der Neuen Musik

Bild: Mohammad Metri from Unsplash (CC0)

Aufgrund veränderter Hörgewohnheiten und damit verbundenen persönlichen Erfahrungen innerhalb der letzten Monate, habe ich mir die Frage gestellt, inwiefern vermehrtes Hören von „Neuer Musik“ (positiven) Einfluss auf Wohlbefinden, Psyche und eventuell sogar gesellschaftliches Zusammenleben haben kann. Vorab möchte ich kurz definieren, an welche Musik ich dabei denke. Grundsätzlich gemeint ist Musik mit einem Schwerpunkt auf – teilweise radikale – Erweiterungen der klanglichen, harmonischen, melodischen oder rhythmischen Formen, in der Regel abseits von Dur-Moll-Tonalität oder typischen Songstrukturen. Ob man sie nun Zeitgenössische M., Experimental- oder Avantgardemusik nennen mag, darf dahingestellt bleiben. Für diejenigen, die neugierig sind, habe ich einige Stücke eingebettet.

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And On The Seventh Day Petals Fell In Petaluma (1966) – Harry Partch

Obwohl ich mich auch vor Beginn meines Musikstudiums regelmäßig mit einer beachtlichen Menge unterschiedlichster Musik konfrontierte, habe ich durch das Studium, den Austausch mit Studierenden sowie Konzerte und Fachliteratur eine Menge Musik, speziell laut obigen Definitionskriterien, kennengelernt. Viele dieser Stücke überforderten mich zunächst. Zumindest aber hatten sie für mich zu Beginn einen gewissen „Exoten“-Status. Innerhalb kürzester Zeit haben sich meine Hörgewohnheiten jedoch verändert: Stücke, die mich anfangs stark irritierten und die ich als anstrengend empfand, gefielen mir zunehmend. Doch nicht nur das, sie taten mir regelrecht gut. Ich empfand das regelmäßige Hören von Neuer Musik als Befreiung des Kopfes, als auditiv-emotionalen Ausbruch aus Konventionen. Besonders die Irritation, das Sprunghafte und die Spannungen schienen schließlich viel menschlicher und „normaler“ zu sein, als es traditionelle Harmonien jemals sein könnten. Mit diesem Eindruck scheine ich bei Weitem nicht alleine zu stehen. Der Schauspieler Axel Ranisch sagt über seine Vorliebe für Zwölftonmusik während seiner Pubertät beispielsweise: „Das passte irgendwie zu den wirren Gedanken im Kopf.“ Bei mir führte es sogar soweit, dass ich in der Musik eine Unterstützung fand, die Absurditäten des Lebens sowie die Widersprüche und Macken meiner Persönlichkeit schätzen zu lernen. Sie lieferte mir quasi das, was viele in Camus finden.

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Faust (1962) – Else Marie Pade

Dazu einige Überlegungen: Steckt nicht wahnsinnig viel politische Poesie in einigen Prinzipien atonaler Musik? Ergibt sich aus der Annahme, dass die Gleichberechtigung aller Zwölftöne dafür sorgt, dass keine Harmonie mehr ermöglicht wird, nicht eine spannende gesellschaftliche Analogie? Wie lässt sich eine Geschichte, wie die eines Warschau-Überlebenden in so etwas banalem, wie C#-Moll darstellen?
In der Auseinandersetzung mit dem Fremden, dem Aufwühlenden, dem Erschreckenden in der Musik liegt für mich ein unheimliches Potential für den Umgang mit sich selbst – aber eben auch für gesellschaftliches Zusammenleben.

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Études de Rythme: III. Neumes Rythmiques (1950) – Olivier Messiaen

Es ist zu beobachten, dass immer mehr Menschen dazu neigen, ihr Leben zu optimieren, gesund zu bleiben oder gesünder zu werden. Gerade die Dinge, die uns besonders machen sollen oft angepasst oder repariert werden, anstatt sie als Stärke anzunehmen. Bei der Einteilung in gesund und ungesund, normal und abnormal verhalten wir uns jedoch meist so eindimensional wie ein Groschenheft.
Ja! Experimentalmusik tut manchmal weh und besticht selten durch heitere Leichtigkeit. Genau damit kommt sie unseren Gefühlswelten aber deutlich näher, als ein vorhersehbares Schemata-Lied. Oder eben ein nahezu in Stein gemeißeltes Stimmungssystem, das schlichtweg falsch ist. Ich bin der festen Überzeugung, dass Neue Musik einen Beitrag dazu leisten kann sich vom schwarz-weiß Denken zu verabschieden.

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Hope In Suffering (Escaping Oblivion & Overcoming Powerlessness) (feat. Oxhy & Puce Mary) (2018) – Yves Tumor

Der wirkliche Wahnsinn liegt meist in der scheinbaren Normalität. Ich sehe hier eine wunderbare Analogie zu unseren Hörgewohnheiten. Ich bin der Ansicht, dass Menschen, die sich regelmäßig auf „Neue Musik“ einlassen, eine größere Akzeptanz anderen und auch sich selbst gegenüber aufbringen können. Wer sich vom schwarz-weiß Denken in der Musik verabschiedet, hat den ersten Schritt gemacht, sich auch gesellschaftlich und politisch davon verabschieden zu können.

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Partiels (1981) – Gérard Grisey

Spinnen wir diese Ideen noch ein wenig weiter, könnte man zu folgender Annahme gelangen: Wer regelmäßig atonale Musik hört, wird bei mentalen atonalen Verstimmungen, nicht sofort an sich selbst zweifeln, wird sich als Ganzes begreifen können und Eigenschaften, die von der Norm abfallen eher als wunderbare Besonderheit und Stärke auffassen können. Und darin liegt offensichtlich eine wertvolle Fähigkeit. Ich bin gespannt auf eure Gedanken.

 

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