„Klimawandel? So ein Unsinn, gibt es nicht! Ist doch normal, dass es mal wärmer ist und mal kälter. Die ganzen Studien sind staatlich finanziert, natürlich kommen die auf Ergebnisse, die den Oberen genehm sind. Das Ganze ist eine große Verschwörung und ihr fallt alle darauf rein!“
Kennen Sie das? Man diskutiert mit einem Verwandten über den menschengemachten Klimawandel. Er ist der Meinung, die Veränderung des Klimas sei vollkommen natürlich und es habe sie schon immer gegeben; die Warnungen von Aktivist*innen und Wissenschaft seien nichts als Hysterie. All die Studien und Wissenschaftler, die schlimme Folgen voraussagen, seien gekauft – es gebe auch ganz andere Wissenschaftler, die sofort zum Schweigen gebracht würden, wenn sie vom Mainstream abweichen. Man versucht dagegen zu argumentieren, dass Schwankungen des Klimas grundsätzlich selbstverständlich natürlich sind, es aber einen derart extremen Temperaturanstieg wie in den letzten hundert Jahren noch nie gegeben hat. Man verweist auf den Bericht des Weltklimarats, Temperaturaufzeichnungen und mehrere wissenschaftliche Studien – also das, was gemeinhin als „Fakten“ bezeichnet wird. Der Gesprächspartner schaut sich die Studien kurz an und erwidert dann: „Ich habe eben andere Fakten.“
Gerade während der aktuellen Corona-Pandemie haben solche „anderen“ oder „alternativen Fakten“ Hochkonjunktur. Nach der Verkündung der ersten Anti-Corona-Maßnahmen dauerte es nicht lange, bis hunderte Videos von selbsterklärten Experten im Internet auftauchten; man kann sich auf Youtube von zahlreichen, oft älteren Herren im Arztkittel erklären lassen, warum Corona gar nicht so schlimm sei und die Pandemie eigentlich nur ein Vorwand, um uns unsere Grundrechte wegzunehmen. Der Fall Donald Trump zeigt, wie erfolgreich solche „alternativen Fakten“ sein können. Ob es um das „chinesischen Virus“, die angeblich gefälschte Wahl oder den Klimawandel geht – für viele Anhänger Trumps ist genau das die Wahrheit, was „ihr“ Präsident behauptet. Vollkommen unabhängig davon, was Virolog*innen sagen, was die Wahllokale verkünden oder was Klimaforscher*innen herausgefunden haben.
Was also tun in einer solchen Situation? Meist bleibt einem nicht viel anderes übrig, als entweder im Streit auseinander zu gehen oder künftig das Thema um des Familienfriedens willen zu vermeiden. Das Gespräch scheitert an einem fehlenden Konsens darüber, auf was sich der Diskurs zu gründen hat. Fakten, die in wissenschaftlichen Diskursen stets die Grundlage für die Argumente beider Seiten darstellen, verlieren plötzlich ihren Status als solche. Die Argumente orientieren sich nicht an einem von beiden streitenden Seiten akzeptierten Ausgangspunkt. Das ist so, als würde ich mich mit jemandem über das Wetter unterhalten, der nicht akzeptiert, dass gerade die Sonne scheint – wir könnten keine sinnvolle Konversation führen. Die Frage nach der Wahrheit wird bedeutungslos, wenn es im Diskurs keinen Minimalkonsens gibt.
Natürlich ist das mit der „Wahrheit“ nicht so einfach. [[1]] Vermutlich würde im ersten Moment fast jeder zustimmen, wenn ich die Aussage „zwei plus zwei ergibt vier“ als „wahr“ bezeichne. Doch schon bei diesem einfachen mathematischen Beispiel kann man sich nach einigem Nachdenken der objektiven Wahrheit dieser Aussage gar nicht mehr so sicher sein: Ist die Aussage „zwei plus zwei ergibt vier“ nicht eigentlich nur eine Konvention, die wir „Mathematik“ nennen? [[2]] Kann es nicht eine Alternative zum gebräuchlichen Dezimalsystem geben, in dem die Rechnung „zwei plus zwei“ ein ganz anderes Ergebnis hat? Und wenn ja, sind dann beide Ergebnisse „wahr“ oder keines von beiden?
Im Alltag verwenden wir den Begriff „Wahrheit“ meist in einer Weise, die der sogenannten Korrespondenztheorie entspricht. Laut Metzler-Philosophielexikon besagt sie, „dass [Wahrheit] in einer Übereinstimmung (Korrespondenz) zwischen einem geistigen oder sprachlichen Gegenstand (z.B. Vorstellung, Urteil, Satz) und (einem Teil) der Wirklichkeit besteht.“ [[3]] Um „wahr“ genannt werden zu können, muss ein Satz also mit der Realität übereinstimmen. Die Aussage „der Baum vor meinem Fenster ist schneebedeckt“ ist genau dann wahr, wenn auf dem Baum vor meinem Fenster tatsächlich Schnee liegt. Wenn nicht, ist der Satz falsch.
Nehmen wir an, ich schaue aus dem Fenster und sehe, dass draußen die Sonne scheint. Die Aussage „Draußen scheint die Sonne“ ist also wahr. Oder?
Der erste Einwand betrifft natürlich die unklare Formulierung. Jemand, der fünfzig Kilometer entfernt wohnt, kann die gleiche Aussage möglicherweise nicht „wahr“ nennen, weil auf sein Fenster Regentropfen prasseln. Aber nehmen wir an, meine Behauptung schlösse sowohl Ort als auch Zeit exakt ein und bezöge sich genau auf den Bereich vor meinem Fenster zu einem genau bestimmten Zeitpunkt. Auch dann könnte es allein durch definitorische Unklarheiten Probleme geben – jemand anders könnte unter dem Ausdruck „die Sonne scheint“ etwas anderes verstehen als ich; zum Beispiel könnte man sich vorstellen, dass die Sonne lediglich durch Wolken hindurchscheint, was ich persönlich mit dem Term „die Sonne scheint“ definiere, für meinen Nachbarn aber „bewölkt“ bedeutet. Dieser Einwand ist schon deutlich schwieriger zurückzuweisen. Je unterschiedlicher die Teilnehmer*innen eines Diskurses, desto wahrscheinlicher ist es, dass sich auch die Vorstellungen bezüglich konkreter Gegenstände oder Ereignisse unterscheiden. Geht der Diskurs gar über Kulturen hinweg, kann dies zu ernsthaften Verständnisproblemen führen.
Ich lasse diesen Einwand allerdings nur bedingt gelten. Als kommunikative Wesen besitzen wir die Fähigkeit, sprachliche Hindernisse zu überwinden und uns auf Definitionen zu einigen. Mit Bezug auf Wittgenstein: Als Menschen teilen wir „durch die Sprachpraxis [eine] gemeinsame Lebensform, die ein Verständnis des anderen grundsätzlich ermöglicht.“ [[4]]
Dritter und letzter Einwand: Kann ich mir überhaupt sicher sein, dass meine Sinne nicht irren? Es wäre ja zumindest möglich, dass die Sonnenstrahlen vor meinem Fenster lediglich eine Illusion sind. René Descartes hat diesen Gedanken mit seiner berühmt gewordenen Methode des „universellen Zweifels“ konsequent ins Extreme weitergeführt: Als Experiment nahm er an, dass alle Wahrnehmung und alles Erfahrbare, Täuschung sei. [[5]] Dieses Gedankenexperiment führte Descartes zu dem Schluss, dass nur die Tatsache, dass ich denke, von mir selbst unbezweifelbar ist. Was ich denke, kann Illusion sein, aber dass ich denke, muss wahr sein – denn auch eine Illusion des Denkens würde ich denken.
Wenn ich also nichts außer dem Denkakt gewiss sein kann, inwiefern ist dann eine Korrespondenztheorie überhaupt noch möglich? Wenn die Sonne vor meinem Fenster genauso gut Täuschung sein kann, wie kann ich dann von einem Satz behaupten, er stimme mit der Wirklichkeit überein? [[6]] Eine mögliche Lösung, die uns vor einem solchen allumfassenden Skeptizismus bewahrt, ist der lebensweltliche Ansatz von Julian Nida-Rümelin. [[7]] Für ihn muss Philosophie bei der lebensweltlichen Praxis der Menschen beginnen – und niemandes Lebenswelt beinhaltet einen absoluten Zertismus, welcher für alle Überzeugungen absolute Gewissheit verlangt. Wenn wir die Straße überqueren und ein Auto auf uns zurast, überlegen wir nicht, ob das Auto nicht bloß eine Täuschung sein könnte, sondern springen zur Seite. Descartes‘ methodischen Zweifel müssen wir nicht bis zum Ende mitvollziehen, weil er sich mit einer anderen Ebene von Wahrheit beschäftigt: Es handelt sich um ein Gedankenexperiment, um herauszufinden, über was wir uns absolut sicher sein können – nicht um zu bestimmen, was wahr oder nicht wahr ist. Für unser Alltagsverständnis bedeutet das lediglich: Zwar können wir nicht davon ausgehen, dass all unsere Wahrnehmungen und Sinneseindrücke immer wahr sind – man denke an eine Fata Morgana oder einen Menschen mit Rot-Grün-Schwäche – aber das bedeutet nicht, dass sie notwendigerweise falsch (also Täuschungen) sind. Im Gegenteil: Ohne Vertrauen auf unsere Sinne wäre es uns gar nicht möglich, zu überleben. Dass jemand Illusionen und Täuschungen seines Gehirns erliegt, ist eine durchaus mögliche Situation – aber man kann doch meist relativ sicher sagen, dass dies im Gespräch mit dem Verwandten über den Klimawandel nicht der Grund des Dissens ist. Auch der letzte Kritikpunkt kann also zurückgewiesen werden.
Wenn ich mir sicher bin, dass draußen die Sonne scheint, und mein Nachbar das gleiche Verständnis des Satzes „die Sonne scheint“ hat wie ich, müssten wir beide die Aussage also nun als „wahr“ bezeichnen. Aber was machen wir, wenn eine dritte Person hinzukommt und behauptet, meine Aussage sei falsch? Laut Korrespondenztheorie müssten wir überprüfen, welche Aussage mit der Wirklichkeit übereinstimmt: Wir schauen aus dem Fenster, gehen vielleicht sogar aus dem Haus, stellen fest, dass die Sonne scheint – dass meine Aussage also wahr ist. So weit, so gut – aber was, wenn die Überprüfung nicht so einfach ist? Im Alltag, in der Wissenschaft und in der Politik sind wir ständig mit Fragen konfrontiert, die sich mit weniger „offensichtlichen“ Wahrheiten befassen. Um die Frage „Gibt es den Klimawandel?“ zu beantworten, reicht es nicht, aus dem Fenster zu schauen. Wie also überprüfen wir, ob der Klimawandel wahr ist oder nicht?
Mit seiner „Konsenstheorie der Wahrheit“ versucht Jürgen Habermas genau dieses Problem der Überprüfung zu lösen. Gemäß der Konsenstheorie ist wahr, worauf sich die Teilnehmer*innen eines (gesellschaftsweiten) Diskurses einigen. „Wahrheit“ ist daher unabhängig von einer objektiven Realität, sie entsteht erst im Diskurs. Wenn wir uns darauf einigen, dass das Prügeln von Kindern falsch ist, ist dies qua Diskurs „wahr“. Wenn die Gesellschaft sich darauf einigt, dass es den Klimawandel gibt, ist diese Aussage qua Diskurs „wahr“. „Die Bedingung für die Wahrheit von
Aussagen ist die potentielle Zustimmung aller anderen.“ [[8]] In einer Begründungspraxis werden Argumente für und wider abgewogen, und das Ergebnis dieses Prozesses ist die Wahrheit.
Doch diese Theorie hat offensichtliche kontraintuitive Implikationen: Was, wenn sich aus irgendwelchen Gründen alle Diskursteilnehmer*innen darauf einigen, dass es keinen Klimawandel gibt? Ist das dann „wahr“? Das Klima wird sich wohl kaum nach den Diskursergebnissen der Menschen richten und plötzlich aufhören, sich zu erwärmen. Habermas führt deshalb den Begriff der „Kompetenz“ ein, welcher die Unterscheidung von wahrem und falschem Konsens ermöglichen soll: „Ein Konsensus unter Gesprächspartnern, die die Wahrheit von Aussagen beurteilen, ist […] ein zureichendes Wahrheitskriterium, wenn die Gesprächsteilnehmer als kompetente Beurteiler, und das heißt, […] als ,vernünftig'[,] gelten dürfen. Jetzt können wir vorschlagen, ‚vernünftig‘ alle die zu nennen, die den nichtkonventionellen Weg der Nachprüfung von empirischen Behauptungen wählen, also zu Beobachtung und Befragung fähig sind.“ [[9]] Dieser „nichtkonventionelle Weg“ ermögliche es, so Habermas, unabhängig vom Diskurs den Wahrheitsgehalt einer empirischen Aussage zu überprüfen – und zwar per „Beobachtung“ in den Natur- sowie per „Befragung“ in den Sozialwissenschaften. Das sei deshalb möglich, weil die Verlässlichkeit einer Beobachtung durch andere Beobachtungen überprüft werden könne. Hier wird jedoch deutlich, dass Habermas implizit die realistische Annahme einer unabhängigen Wirklichkeit macht, die seiner ursprünglichen Definition von Wahrheit als Ergebnis eines Diskurses zuwiderläuft. Ansgar Beckermann schreibt: „Habermas‘ Definition von Kompetenz durch Rekurs auf die nicht-konventionellen Methoden läuft also letztlich darauf hinaus, dass kompetent genau der ist, der mehr über die Realität weiß. Das ist zwar einleuchtend, aber mit den Grundsätzen einer [Konsenstheorie] der Wahrheit nicht zu vereinbaren.“ [[10]]
Obwohl bei Habermas also zunächst einmal das wahr ist, auf was sich die Individuen im (herrschaftsfreien) Diskurs einigen, kommt seine Theorie nicht ohne realistische Annahmen aus, wenn sie nicht zu völlig kontraintuitiven Ergebnissen führen soll. Essenziell für den Diskurs ist bei Habermas, dass dessen Teilnehmer dazu bereit sind, das bessere Argument anzuerkennen. Das bessere Argument kann sich aber nicht lediglich aus der logischen Konsistenz oder der expressiven Überzeugungskraft ergeben, sondern benötigt eine möglichst hohe Korrespondenz mit der Wahrheit. Wenn sich alle Menschen darauf einigen würden, es gebe keine Klimawandel, wäre das zwar Konsens – aber trotzdem falsch. Auch dann, wenn jemand logisch gültige Argumente dafür vorbringt, die von allen anderen als überzeugend anerkannt werden. Habermas‘ Ansatz läuft also letztlich doch auf eine Überprüfung der Korrespondenz mit der Wirklichkeit hinaus – nicht anders als die genannte Korrespondenztheorie.
Natürlich können wir nie letztgültig sicherstellen, ob ein Argument oder ein Konsens tatsächlich mit der Wirklichkeit korrespondiert. Insofern wird im gesellschaftlichen Diskurs durchaus bestimmt, welche „Wahrheiten“ wir als gesichert annehmen. Denn selbstverständlich haben wissenschaftliche Fakten nicht den Anspruch, „die Wahrheit“ als solche erkannt zu haben und abzubilden. Das wäre aufgrund des (empirischen) Forschungsprozesses auch kontraproduktiv – Hypothesen werden aufgestellt, überprüft und gegebenenfalls wieder verworfen. Was heute als „Fakt“ gilt, könnte durchaus in hundert Jahren aufgrund neuer Erkenntnisse wieder abgelehnt werden. Aber trotzdem ist ein wissenschaftlicher Fakt mehr als ein gesellschaftliches Konstrukt: Er stellt die bislang größtmögliche Annäherung an die „Wahrheit“ dar, die unabhängig vom Subjekt existiert. Wenn man dies mit einem fallibilistischen Ansatz verbindet, es also für möglich hält, falsch zu liegen, haben wissenschaftliche Fakten und ein gesellschaftlicher Konsens sehr wohl ihre Berechtigung. Ja, wir können uns nicht vollkommen sicher sein, nicht in der Matrix zu leben oder dass es den Klimawandel gibt, oder dass die Wahlen in den USA nicht gefälscht wurden – aber wir halten es, gestützt von der Wissenschaft, für wahrscheinlicher als das Gegenteil. „Wahrheit“ und „Fakten“ sind also durchaus in gewissem Sinne ein soziales Konstrukt – aber eines, das nicht völlig losgelöst ist von der tatsächlichen, ontologischen Beschaffenheit. Wie sehr man auch darum herum redet – letztlich hat eine bestimmte Zahl von Menschen für Trump gestimmt. Wie viele, das mag man nicht vollkommen sicher darlegen können, doch dass eine bestimmte Zahl wahr ist, daran kann wohl kaum ein Zweifel bestehen. [[11]] Es existiert eine unabhängige Realität, und wir müssen versuchen, ihr möglichst nahe zu kommen.
Letztlich ist die Frage nach der Wahrheit – oder, vielleicht besser, nach der Erkenntnis von Wahrheit – darum immer auch eine des Vertrauens. In die eigenen Sinneswahrnehmungen, in die Wissenschaft, und auch in die Politik. Ohne ein gewisses Grundvertrauen wäre es unmöglich, ein Leben zu führen. Wenn wir immer das Schlechtmöglichste von unseren Mitmenschen annähmen, könnten wir mit niemandem in Interaktion treten. Es hat einen Sinn, dass Aussagen von Klimawissenschaftlern im Klimawandeldiskurs und Virologen in der Corona-Debatte mehr Gewicht haben als Aussagen von Menschen, die sich mit dem jeweiligen Themengebiet nicht jeden Tag auseinandersetzen. In unserer Gesellschaft hat sich ein bestimmter Modus herausgebildet, in dem wir der Wirklichkeit so nah wie möglich kommen: Arbeitsteilung und Spezialisierung, also die Ausbildung von Kompetenzen.
Nur weil jemand einen Doktortitel vorweisen kann, macht ihn das aber natürlich nicht automatisch zum qualifizierteren Diskursteilnehmer. Das Grundvertrauen ersetzt nicht das kritische Hinterfragen, das für-sich-selber-Denken. Die Frage, wer für welches Thema als „besonders qualifiziert“ gilt, kann und muss im gesellschaftlichen Diskurs erörtert werden. Wissenschaft und Politik sollten immer einen fallibilistischen Ansatz verfolgen – also sich bewusst sein, dass selbst „Experten“ auf ihrem Gebiet falsch liegen können. Und doch ist ein Grundvertrauen in etwas notwendig, das wir „Fakten“ nennen – Zahlen, Daten, Naturgesetze. Denn das Konzept Wahrheit funktioniert eben nicht nach dem Prinzip „ich mach mir die Welt, widdewidde wie sie mir gefällt“ – nur weil ein US-Präsident etwas behauptet und es Leute gibt, die ihm das glauben, ist es deswegen nicht „wahr“. Es gibt eine Wahrheit, die unabhängig von uns existiert – wir müssen versuchen, sie so objektiv wie möglich zu erkennen. Es kann keine „alternativen Fakten“ geben, sondern lediglich Argumente, die wahrscheinlicher, und Argumente, die weniger wahrscheinlich mit der Wirklichkeit übereinstimmen.
Den Klimawandelleugnern, „Querdenkern“ und Anhängern von Verschwörungstheorien dieses Grundvertrauen zurückzugeben, darin besteht unsere einzige Chance, wieder einen gesamtgesellschaftlichen Diskurs zu ermöglichen. Denn alle diskursiven Ansätze, auch der von Habermas, können nur funktionieren, wenn es einen gemeinsamen Referenzwert gibt, auf den sich alle Diskursteilnehmer*innen berufen können – und dieser Referenzwert ist die Realität. Wer diesen Referenzwert nicht akzeptiert, ist nicht einmal fähig zum Diskurs. Wir müssen herausfinden, warum manche Menschen das so elementare Grundvertrauen in Mitmenschen, Staat und Wissenschaft nicht (mehr) haben – und gleichzeitig vehement denjenigen entgegentreten, die behaupten, sie könnten sich mit „alternativen Fakten“ eine eigene Wirklichkeit konstruieren. Wir unterscheiden uns alle darin, wie wir die Wirklichkeit erfassen, aber es gibt nur eine, unabhängige Wahrheit. Dass jeder danach strebt, diese so objektiv wie möglich zu erkennen, muss Teil des Grundvertrauens in unsere Mitmenschen sein. Wie man dieses Grundvertrauen denen, die es verloren haben, zurückgibt – das ist eine Frage, auf denen wir möglichst schnell eine Antwort finden sollten.
[1] Abgesehen natürlich von sogenannten „analytischen Wahrheiten“: Dass ein Junggeselle zum Beispiel nicht verheiratet ist, kann und muss „wahr“ genannt werden, weil diese Vorausgabe schon in der Definition des Wortes „Junggeselle“ liegt. Diese Aussage bringt jedoch keinen Erkenntnisgewinn, sie bezieht sich nicht auf die Empirie – hilft uns also auf der Suche nach einer Ordnung von empirischem Diskussionsstoff nicht weiter.
[2] Selbst dann könnte man die Aussage noch als „wahr“ bezeichnen – wahr per sozialer Konvention. Aber eben nicht mehr im Sinne einer Korrespondenztheorie, da die Zahl nicht mehr mit einer „Wirklichkeit“ übereinstimmen würde.
[3] Metzler Lexikon Philosophie: Wahrheit, in: https://www.spektrum.de/lexikon/philosophie/wahrheit/2188; 09.11.2020.
[4] Wachtendorf, Thomas 2013: Aber der Löwe spricht eben nicht! Anmerkungen zu einer Kontroverse, in: https://wab.uib.no/agora/tools/alws/collection-6-issue-1-article-8.annotate#index.xml-body.1_div.6; 22.12.2020.
[5] Vgl. Descartes, René 1642: Meditationes de prima philosophia.
[6] Vielleicht leben wir ja sogar nur in der Matrix – doch wie sinnvoll in solch einem Fall dann Physik, Philosophie und andere Wissenschaften überhaupt noch wären, ist eine berechtigte Frage. Daher halte ich es allein aus Gründen der lebensweltlichen Praxis schon für angemessen, nicht von einer Matrix auszugehen.
[7] Vgl.Nida-Rümelin, Julian 2020: Eine Theorie praktischer Vernunft, Berlin.
[8] Habermas, Jürgen 1971: Vorbereitender Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz, in: Habermas, Jürgen / Luhmann, Niklas: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtheorie, Frankfurt a. M., S. 124; zitiert nach: Beckermann, Ansgar 1972: Die realistischen Voraussetzungen der Konsenstheorie von J. Habermas, in: Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie 3: 1, Wiesbaden, S. 64. (Herv. d. Verf.).
[9] Ebd., S. 72.
[10] Beckermann, Ansgar 1972: Die realistischen Voraussetzungen der Konsenstheorie von J. Habermas, in: Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie 3: 1, Wiesbaden, S. 72-73.
[11] An dieser Stelle verzichte ich auf eine ausführliche Diskussion des Einwands, der sich auf die epistemischen Ebene des Beispiels bezieht: Es ist vorstellbar, dass die Wahl nie stattgefunden hat und lediglich „vorgespielt“ wurde. Das ist richtig, doch auch hier gibt es eine ontologische „Wahrheit“ – entweder sie hat stattgefunden oder nicht, eines von beiden muss „wahr“ sein. Aus bestimmten Gründen gehen wir davon aus, dass sie tatsächlich stattgefunden hat. Dies unterstreicht meinen Punkt: Es mag sein, dass wir nie hundertprozentig von einem Sachverhalt überzeugt sein können – doch dass die Wahrheit „an sich“ existiert, wird davon nicht beeinflusst.