Zwischen Mutter und Tochter: Julia Kristevas Theorie des Abjekten in Toni Morrisons Beloved

Toni Morrison war eine afro-amerikanische Literaturnobelpreisträgerin, deren Stimme eine der lautesten war, als die USA zögerlich begann, afro-amerikanische Literatur zu veröffentlichen. Ihre Werke verbinden die Geschichte der Sklaverei mit einer sensiblen, lyrischen Sprache, einer Sprache, die nicht nur Inhalt erzählt, sondern auch Inhalt ist. Im Folgenden werde ich Morrisons Buch Beloved mit der Theorie des Abjekten von der französischen Philosophin Julia Kristeva lesen. Warum das interessant ist? Weil Verbrechen moralisch nicht immer einfach als ‚richtig‘ oder ‚falsch‘ einzuordnen sind. Ein Beispiel ist eine Mutter, die den Mörder ihres Kindes vor Gericht erschießt. Derartige Verbrechen sind irgendwo zwischen richtig und falsch, zwischen Gut und Böse, zwischen klaren dualistischen Kategorien. Morrison schafft es, dieses Dazwischen zu verbalisieren, obwohl das, so Kristevas Theorie, eigentlich unmöglich ist.

“It was not a story to pass on. […] This is not a story to pass on”,[1] beendet Toni Morrison Beloved. Warum also wurde die Geschichte trotzdem erzählt, gelesen, rezipiert? Was ist es, das es unmöglich macht, sie zu erzählen?  Das Buch handelt von der ehemaligen Sklavin Sethe, die schaffte von der Farm zu fliehen, auf der sie geboren wurde. Bei ihrer Mutter, Baby Suggs angekommen, findet sie der Sklaventreiber jedoch. Um ihren Kindern ein Leben in der Sklaverei zu ersparen, tötet sie ihre neugeborene Tochter. Die Handlung beginnt Jahre später, ihre beiden Söhne sind aus dem Haus und Sethe lebt mit ihrer Tochter Denver zusammen. Beloved, ihre ermordete Tochter, kehrt als Geist in Fleisch und Blut zu Sethe zurück und verlangt nach der Mutter, die ihr verwehrt wurde. Die drei Frauen isolieren sich zunehmend von der Außenwelt, während Beloved immer fordernder wird. Am Ende rettet Denver ihre Mutter, in dem sie Hilfe holt, umBeloved zu vertreiben. Morrisons Erzählung beruht auf der Sklavin Margaret Garner, deren Geschichte nie erzählt wurde, außer als Schlagzeile in der Zeitung. Wie Morrison selbst in einem Interview formuliert, ist Margaret Garners Tat “the right thing to do, but she had no right to do it”.[2] Morrisons antithetische Aussage spiegelt den Konflikt wieder, den die Figuren sowie Leser*innen von Beloved spüren. Die Tat, um die sich Beloved dreht (Kindsmord), sowie die Geschichte selbst befinden sich zwischen Richtig und Falsch, zwischen Erzählen und nicht Erzählen können und entziehen sich so klarer Klassifikation.

Die französische Philosophin, Psychoanalytikerin und Literaturwissenschaftlerin Julia Kristeva beschreibt in ihrem Essay Pouvoirs de l‘horreur das Abjekte zwischen Abstoßung und Anziehungskraft, als das, was dem Ich gegenübersteht und das Über-Ich mit seinen festen Regeln und Moralvorstellungen herausfordert. Das Abjekte konfrontiert uns mit einer Sinnlosigkeit, die weder Subjekt noch Objekt ist, sondern etwas dazwischen, das wir nicht zuordnen können. Als Beispiel nennt Kristeva eine Leiche: sie befindet sich an der Grenze zwischen Leben und Tod, sie ist weder ganz Mensch noch ganz Ding. Das Abjekte ist die Absenz von Ordnung, System und Struktur, von einer klar definierten Subjektivität. [3]

Wie hängt diese Theorie nun mit Beloved zusammen? Die abjekte Konsequenz einer zerstörten Subjektivität unter den Fesseln der Sklaverei ist der verzweifelt Hunger nach einer Mutter, nach grenzenloser Liebe, dessen Erfüllung, eine Rückkehr zur Einheit im Mutterleib, die in Wahnsinn enden kann.

Kollabieren der Grenzen zwischen Ich und Anderen

Was Becker Leckrone als Kristevas Technik in ihrem Essay beschreibt, nämlich die Verwendung der ersten Person Singular, die die Grenzen zwischen fiktionalen Text und wissenschaftlichem Text, Subjekt des Beschreibenden und Objekt des Beschriebenen verschwimmen lässt und eine verwirrende Intimität erzeugt, findet sich auch in Beloved.[4] Durch drei Monologe gibt es keine Distanz zu den Figuren mehr, die Leser*in schlüpft in jede Rolle gleichermaßen. Die mimetische Distanz, deren Zusammenbruch Kristeva beschreibt und selbst erzeugt, findet sich in der Verbindung der verschiedenen Perspektiven zu einer Stimme. Kristevas Sprache unterstreicht das komplexe Konzept des Abjekten, das sie versucht in Worte zu fassen: eine Ansammlung von „dependent clauses, riddled with oblique pronouns and allusive etymologies, layered with repeated proposals to tell us what the abject is, largely by declaring what it is not”.[5]

Beloved sehnt sich nach dem Zustand der Einigkeit: sie spricht in einem Dialog mit der Mutter, der die Position der Pronomen vermischt, keine Satzzeichen hat und somit alle Grenzen dekonstruiert, die Sprache normalerweise hat.[6] Im Gegensatz zu Denver und Sethe beginnt ihr Monolog mit dem Satz „ I am beloved and she is mine“.[7] Bei Denver und Sethe beginnt der Monolog mit ihrer Beziehung zu Beloved: „Beloved, she my daughter“ und „Beloved is my sister“.[8] Beide haben die Beziehung zum eigen Selbst scheinbar verloren, auch wenn Denver durch den Kontakt mit der Außenwelt versucht sich von der Situation loszulösen. Beloveds Monolog hat jedoch, abgesehen von diesem ersten Satz, keinerlei Satzzeichen, keinerlei Grenzen. Ihr aufgeblasenes Ich hat keine Mauern und zieht alles um sich herum in sich hinein: „I am not seperate from her there is no place where I stop“.[9] Morrison führt uns das Scheitern der Subjektwerdung als eine der schrecklichen Konsequenzen der Sklaverei vor Augen. Wie Kristeva versprachlicht sie dabei in ihrem Text das Dazwischen. Die Satzzeichen kollabieren und sorgen für die Verschmelzung von Sprecher und Zuhörer.

“I have your milk/ I have your smile/ I will take care of you/ You are my face; I am you. Why did you leave me who am you?[…] You hurt me / You came back to me/ You left me / I waited for you/ You are mine/ You are mine/ You are mine”[10]

Der Hunger, den alle drei Frauen verspüren, kommt hier zu einem Höhepunkt. In diesem Dialog wird unklar, wer spricht und es gibt keinerlei Anführungszeichen oder Indikatoren der wörtlichen Rede. Wer Fragen stellt und wer antwortet kann nicht mit Sicherheit bestimmt werden. Einzig die dreifache Wiederholung des „You are mine“ spielt darauf an, dass sich die drei Frauen gegenseitig gehören wollen und jede den Satz einmal äußert. Die Passage konfrontiert den Leser/die Leserin mit etwas zwischen Dialog und Monolog, grenzenlos, von Wiederholungen durchzogen, kurz: mit dem Konzept des Abjekten.

Die Katharsis des Abjekten: Sethes Verbrechen als ethische Frage

Kunst und Literatur unterdrückt das Unsagbare nicht sondern drückt es aus, im Gegensatz zu Gesetz oder Kirche. Es in Sprache zu fassen, heißt etwas darüber zu wissen, ihm nahe zu sein und es nicht zu unterdrücken.[11] Die Katharsis, die die Religion verspricht, ist in ihrer reinsten Form in der Kunst vorzufinden: die Kunst spricht das Abjekte aus ohne es zu verdrängen.[12] Man könnte also behaupten, dass das Lesen von Literatur über das Abjekte einem das Gefühl von Kontrolle gibt. Man verstößt das Abjekte nicht, um es dann zu ignorieren, sondern beschäftigt sich damit und hat das Gefühl es zu kennen. Trotzdem besteht die notwendige Distanz durch die Ordnung der Sprache und des Textes. Dies erklärt u.a. auch, warum viele Menschen gerne Psychothriller lesen: die Gewalt, mit der sie sich in der Zeitung und der realen Welt konfrontiert sehen, ist in einem Buch in Worte gefasst. Das Unsagbare wurde erzählbar gemacht.

Sethes Verbrechen ethisch nicht klar als gut oder böse kategorisiert werden.  Die Soziologin Diana L. Gustafson formuliert es folgendermaßen: “As a tool for interpreting the world, a binary simplifies the examination of relative beliefs and values by reducing the complexity of multiple factors into discrete, oppositional categories.”[13] Morrison schreibt aber genau die Geschichte dessen, was eben nicht der Vereinfachung der Komplexität entspricht.

Durch den Ansatz Kristevas lässt sich Beloved also als abjekte Geschichte eines Zusammenbruchs von Grenzen lesen, durch die wir uns als freie Subjekte verstehen lernen.  Sklaverei nimmt die Möglichkeit einer Grenzziehung und die Mutter wird zu jemandem, dem einem andere zeigen müssen. In der Konformität der Existenz als Sklave/Sklavin sehnt sich der/die Verlorene mit einem unstillbaren Hunger nach Anerkennung und Liebe von außen: Beloved lehrt uns, dass das freie, autonome Selbst immer sozial und abhängig von gegenseitiger Anerkennung ist.[14] Beloved kann also einerseits als Lösung einer Subjektkrise durch die Ablehnung des Abjekten gelesen werden: eine erneute Subjektivierung und Abtrennung von der Mutter findet statt, beobachtbar, lesbar, verständlich. Anderseits kann es als Lösung der Frage nach richtig und falsch, gut oder böse gedeutet werden: der Mensch und seine Handlungen sind nur schwer in duale Kategorien einzuteilen. Durch das Lesen von Texten, die sich mit dem Dazwischen beschäftigen, kann jedoch eine Art kathartische Kontrolle hergestellt werden, gerade bei Geschichten, die man nicht oder nur schwer erzählen kann.


Bibliographie

Primärquellen

Morrison, Tony: Beloved. London:Penguin 2016.

Kristeva, Julia: Pouvoirs de l’horreur : Essai sur l’abjection. Paris : Éditions du Seuil, 1980.

Sekundärquellen

Becker, Leckrone: Julia Kristeva and Literary Theory. New York: Palgrave Macmillan 2005.

Gustafson, Diana L.: Unbecoming Mothers: The Social Production of Maternal Absence. New York: Routledge 2005.

Rothstein, Mervyn: “Toni Morrison, in her new novel, defends women”. In: New York Times (1996 [1987]). https://www.nytimes.com/1987/08/26/books/toni-morrison-in-her-new-novel-defends-women.html (Letzter Zugriff: 18.09.2020)

Schapiro, Barbara: “The Bonds of Love and the Boundaries of Self in Toni Morrison’s “Beloved””. In: Contemporary Literature 32:2 (1991), S.194-210.

Wyatt, Jean: “Giving the Body to the World: The Maternal Symbolic om Toni Morrison’s Beloved”, In: PMLA 108: 3 (1993), S. 474-488.


[1] Morrison: Beloved, S. 324.

[2] Rothstein: Tony Morrison.

[3] Vgl. Kristeva: Pouvoirs de l’horreur, S. 11-12.

[4] Vgl. Becker-Leckrone: Julia Kristeva and Literary Theory, S.35.

[5] Becker-Leckrone: Julia Kristeva and Literary Theory, S.36.

[6] Vgl. Wyatt: “Giving body to the World, S. 474.

[7] Morrison: Beloved, S. 248.

[8] Ebd., S. 236; S. 243.

[9] Ebd., S. 258.

[10] Ebd., S. 256.

[11] Vgl. Ebd., S.23-24.

[12] Vgl. Ebd., 24-25.

[13] Gustafson: „Maternal Absence, S. 25.

[14] Vgl. Schapiro:The Bonds of Love”, S. 209.

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